Die Menschenleserin
Liebe zu mir und so weiter. Aber sie waren bloß Kontrollfreaks. Sie wollten mich in eine kleine Puppe verwandeln, die sie kostümieren und mit der sie spielen konnten.
Ich ging also nach Hause zurück, musste aber die ganze Zeit an Daniel denken. Wir hatten uns nur, keine Ahnung, ein paar Stunden unterhalten. Aber es war herrlich. Er hat mich wie einen vollwertigen Menschen behandelt. Er riet mir, ich solle meinem Urteilsvermögen vertrauen. Dass ich klug sei und hübsch.« Sie verzog das Gesicht. »Oh, ich war das nicht wirklich – keines von beidem. Aber als er es gesagt hat, habe ich ihm geglaubt.
Eines Morgens kam meine Mutter zu mir ins Zimmer und sagte, ich solle aufstehen und mich fertig machen. Wir würden meine Tante oder so besuchen. Und ich solle einen Rock tragen. Ich wollte aber eine Jeans anziehen. Es war kein förmlicher Anlass – wir wollten nur gemeinsam zu Mittag essen. Aber sie hat mächtig viel Wirbel deswegen gemacht und mich angeschrien. › Ihre Tochter würde auf keinen Fall...‹ Sie verstehen, was ich meine. Nun ja, ich habe meinen Rucksack genommen und bin einfach weggegangen. Ich hatte Angst, ich würde Daniel nicht wiederfinden, aber mir fiel ein, dass er erzählt hatte, er würde in der darauf folgenden Woche in Santa Cruz sein, auf einem Flohmarkt an der Promenade.«
Dort am Strand gab es einen berühmten Vergnügungspark, bei dem rund um die Uhr zahlreiche junge Leute anzutreffen waren. Dance überlegte sich, dass der Ort ein gutes Jagdrevier abgeben würde, falls Daniel Pell auf Opfer aus war.
»Daher bin ich den Highway 1 hinuntergetrampt, und da war er. Er schien erfreut zu sein, mich zu sehen. Was bei meinen Eltern nie der Fall gewesen ist, glaube ich.« Sie lachte. »Ich hab ihn gefragt, ob er eine Bleibe für mich wüsste. Es war ein Wink mit dem Zaunpfahl, und ich war ganz schön nervös. Aber er sagte: ›Na klar. Du bleibst bei uns.‹«
»In Seaside?«
»Ja. Wir hatten da einen kleinen Bungalow. Es war hübsch.«
»Sie, Samantha, Jimmy und Pell?«
»Richtig.«
Ihre Körpersprache verriet Dance, dass sie die Erinnerungen genoss: die lockeren Schultern, die Fältchen in den Augenwinkeln und die unterstreichenden Gesten, die den Inhalt der Worte betonen und Rückschlüsse darauf zulassen, wie stark der Sprechende auf das von ihm selbst Gesagte reagiert.
Linda nahm ihre Tasse und trank einen Schluck. »Was auch immer in den Zeitungen gestanden hat, war falsch – der Kult, die Drogenorgien. Es war wirklich angenehm und gemütlich. Ich meine, es gab weder Drogen noch Schnaps, nur manchmal Wein zum Abendessen. Ach, es war schön. Es gefiel mir, bei Leuten zu sein, die mich als die sahen, die ich war, und mich nicht ändern wollten, sondern mich respektiert haben. Ich habe den Haushalt geführt. Ich war gewissermaßen die Mutter, könnte man wohl sagen. Es war so gut, eine Verantwortung zu übernehmen und zur Abwechslung mal nicht dafür angeschrien zu werden, eine eigene Meinung zu haben.«
»Was war mit den Straftaten?«
Linda spannte sich an. »Die gab es auch . Ein paar. Nicht so viele, wie behauptet wird. Einige Ladendiebstähle und so. Und es hat mir nie gefallen. Nie.«
Hierbei gab es ein paar Verleugnungsgesten, aber Dance spürte, dass Linda keine prinzipielle Irreführung versuchte, sondern unter kinesischem Stress stand, weil sie die Schwere der Vergehen herunterspielte. Die Familie hatte wesentlich ernstere Verbrechen begangen als nur Ladendiebstähle, wusste Dance. Die Anklagen hatten auf Einbruch und schweren Diebstahl gelautet, ebenso auf Handtaschenraub und Taschendiebstahl – die letzten beiden waren Taten gegen Personen und wogen schwerer als reine Eigentumsdelikte.
»Aber uns blieb keine andere Wahl. Um der Familie anzugehören, musste man mitmachen.«
»Wie war es, mit Daniel zusammenzuleben?«
»Nicht so schlimm, wie Sie vielleicht glauben. Man musste nur machen, was er wollte.«
»Und wenn nicht?«
»Er hat uns nie wehgetan. Nicht körperlich. Meistens... zog er sich zurück.«
Dance erinnerte sich an Kelloggs Profil eines Kultführers.
Er droht damit, sich von ihnen zurückzuziehen, und das ist seine stärkste Waffe.
»Er wandte sich einfach von einem ab. Und man bekam Angst. Man wusste nie, ob dies das Ende bedeuten und man rausgeworfen werden würde. Ein Frau im Kirchenbüro hat mir von diesen Fernsehsendungen erzählt. Big Brother, Survivor ?«
Dance nickte.
»Sie hat gesagt, die seien sehr beliebt. Ich glaube, das ist der Grund,
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