Die Menschenleserin
sehen – beruflich und persönlich. Am Vorabend auf dem Deck hatte sie seine Anwesenheit sehr genossen. Für einen viel auf Reisen befindlichen FBI-Agenten war er erstaunlich gesellig gewesen. Dance hatte auf zahlreichen Feiern Kollegen ihres Mannes erlebt und festgestellt, dass die meisten von ihnen still, konzentriert und relativ wortkarg waren. Win Kellogg hingegen hatte gemeinsam mit ihren Eltern als Letzter die Party verlassen.
Nun begrüßte er die beiden Frauen und zeigte ihnen vorsorglich seinen Dienstausweis. Dann goss er sich einen Kaffee ein. Bis jetzt hatte Dance sich nur nach Hintergrundinformationen erkundigt, aber da Kellogg nun hier war, konnte sie zum Kern des Gesprächs vordringen.
»Also gut, die Lage ist folgendermaßen: Pell hält sich vermutlich immer noch in der Gegend auf. Wir wissen nicht, wo oder weshalb. Es ergibt keinen Sinn; die meisten flüchtigen Strafgefangenen entfernen sich so weit wie möglich vom Ort des Ausbruchs.«
Sie schilderte ihnen detailliert den Vorfall im Gerichtsgebäude und die bisherigen Ereignisse. Die Frauen hörten interessiert zu und reagierten mit Erschütterung oder Abscheu auf manche der Einzelheiten.
»Ich möchte Sie zuerst über seine Komplizin befragen.«
»Die Frau, von der ich gelesen habe?«, fragte Linda. »Wer ist sie?«
»Das wissen wir nicht. Offenbar eine junge Blondine, ungefähr Mitte zwanzig.«
»Demnach hat er eine neue Freundin«, sagte Rebecca. »Typisch Daniel.«
»Die Art der Beziehung ist uns nicht genau bekannt«, gestand Kellogg. »Anscheinend war die Frau ein Fan von ihm. Wie es aussieht, werfen sich sogar den schlimmsten Straftätern jede Menge Frauen zu Füßen.«
Rebecca lachte und sah Linda an. »Hast du im Knast irgendwelche Liebesbriefe bekommen? Ich nicht.«
Linda lächelte höflich.
»Es könnte sein, dass es sich um keine Fremde handelt«, sagte Dance. »Als es die Familie gab, war die Frau noch sehr jung, aber ich habe mich gefragt, ob Ihnen vielleicht jemand einfällt.«
Linda runzelte die Stirn. »Mitte zwanzig... das heißt, sie war damals ein Teenager. Ich kann mich an kein solches Mädchen erinnern.«
»Als ich der Familie angehört habe, gab es nur uns fünf«, fügte Rebecca hinzu.
Dance machte sich eine Notiz. »Nun würde ich gern darüber reden, wie es zu jener Zeit gewesen ist. Was Pell gesagt und getan hat, wofür er sich interessierte, welche Pläne er hatte. Ich habe die Hoffnung, Sie könnten sich an etwas erinnern, das auf seine gegenwärtigen Pläne schließen lässt.«
»Schritt eins, man definiert das Problem. Schritt zwei, man besorgt sich die Fakten.« Rebeccas Augen waren auf Dance gerichtet.
Linda und Kellogg sahen sie fragend an. Dance wusste natürlich genau, worauf Rebecca anspielte. (Und war dankbar, dass die Frau nicht in der Stimmung zu sein schien, einen Vortrag wie gestern zu halten.)
»Äußern Sie einfach, was Ihnen einfällt. Auch falls die Idee absonderlich klingt, nur raus damit. Wir nehmen, was immer wir kriegen können.«
»Ich bin dabei«, sagte Linda.
»Legen Sie los«, schloss Rebecca sich an.
Dance erkundigte sich nach der Struktur der Familie.
»Wir haben wie in einer Kommune gelebt«, sagte Rebecca. »Was seltsam für mich war, weil ich doch in so kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen bin.«
Ihrer Beschreibung nach zu urteilen, unterschied das Arrangement sich jedoch ein wenig von dem, was ein überzeugter Kommunist erwarten würde. Die Grundregel schien zu lauten: Jeder gab, was Daniel Pell von ihm verlangte, und jeder bekam, was Daniel Pell ihm zubilligte.
Dennoch funktionierte die Familie recht gut, zumindest auf der praktischen Ebene. Linda hatte dafür gesorgt, dass der Haushalt reibungslos lief und die anderen ihren Beitrag leisteten. Sie aßen vernünftig und hielten den Bungalow sauber und in gutem Zustand. Sowohl Samantha als auch Jimmy Newberg waren geschickte Heimwerker. Aus offensichtlichen Gründen – ein Zimmer fungierte als Lager für Diebesgut – wollte Pell nicht, dass der Eigentümer die Malerarbeiten oder Reparaturen übernahm, also musste die Familie völlig autark sein.
»Das war ein Teil von Daniels Lebensphilosophie«, sagte Linda. »›Selbstvertrauen‹ – der Aufsatz von Ralph Waldo Emerson. Ich habe ihn bestimmt ein Dutzend Mal laut vorgelesen. Daniel hat ihn immer wieder gern gehört.«
Rebecca lächelte. »Erinnerst du dich an die abendlichen Lesungen?«
Linda erklärte, Pell habe sehr viel von Büchern gehalten. »Er
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