Die Menschenleserin
Tee entgegen, goss etwas Milch hinzu und setzte sich.
»Ich habe seit Jahren nicht mehr in einem Flugzeug gesessen«, sagte sie. »Und dieser Jet... der war erstaunlich. So klein, aber man wurde fest in den Sitz gepresst, als wir abhoben. Eine FBI-AGENTIN ist mitgeflogen. Sie war sehr nett.«
Sie saßen auf bequemen Sofas, und zwischen ihnen stand ein großer Couchtisch. Linda sah sich noch einmal im Raum um. »Mann, das ist aber wirklich schön hier.«
Allerdings. Dance fragte sich, was die FBI-Buchhalter sagen würden, wenn sie die Rechnung zu Gesicht bekamen. Das Häuschen kostete fast sechshundert Dollar pro Nacht.
»Rebecca ist unterwegs. Aber Sie und ich können ja schon mal anfangen.«
»Und Samantha?«
»Die möchte nicht kommen.«
»Demnach haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Ich bin zu ihr gefahren.«
»Wo ist sie?... Nein, warten Sie, das dürfen Sie mir ja gar nicht erzählen.«
Dance lächelte.
»Ich habe gehört, sie hatte eine kosmetische Operation und hat ihren Namen und alles geändert.«
»Ja, das stimmt.«
»Am Flughafen habe ich mir eine Zeitung gekauft, um einen besseren Eindruck zu bekommen.«
Dance fragte sich, warum ihr Bruder wohl keinen Fernseher im Haus hatte. Aus moralischen oder kulturellen Gründen? Oder aus finanziellen? Ein kabeltauglicher Apparat kostete heutzutage nur noch wenige hundert Dollar. Doch Dance sah auch, dass die Absätze von Lindas Schuhen fast vollständig abgenutzt waren.
»Darin stand, dass er ohne jeden Zweifel diese Aufseher ermordet hat.« Sie stellte die Tasse ab. »Das hat mich überrascht. Daniel war nicht gewalttätig, es sei denn, er musste sich verteidigen.«
Von Pells Standpunkt aus war vermutlich genau das der Grund, aus dem er die Wärter umgebracht hatte. »Aber jemand anderen hat er am Leben gelassen«, fuhr Linda fort. »Diesen Fahrer.«
Nur weil es seinen Interessen gedient hatte.
Dance erkundigte sich nach dem Mord an dem Bezirksangestellten in Redding.
»Charles Pickering?« Grübelnd ließ die Frau den Blick über die Küchengeräte schweifen. »Ich habe nie gehört, dass Daniel ihn erwähnt hat. Aber da die Polizei ihn freigelassen hat, kann er es doch nicht gewesen sein, oder?«
Interessante Logik. »Wie haben Sie Pell kennengelernt?«
»Das war vor ungefähr zehn Jahren. Im Golden Gate Park in San Francisco. Ich war von zu Hause weggelaufen und habe dort geschlafen. Daniel, Samantha und Jimmy haben in Seaside gewohnt, zusammen mit einigen anderen Leuten, aber sie sind ständig die Küste hinauf-und hinuntergezogen, wie Zigeuner, und haben Sachen verkauft, die sie billig besorgt oder selbst hergestellt hatten. Sam und Jimmy waren ziemlich talentiert; sie haben Bilderrahmen gebastelt, CD-Ständer oder Krawattenhalter. So’n Zeug halt.
Jedenfalls, ich war an dem Wochenende abgehauen – was keine große Sache war, ich hab das andauernd gemacht -, und Daniel sah mich in der Nähe des japanischen Gartens. Er setzte sich, und wir sind ins Gespräch gekommen. Daniel hat diese Gabe. Er hört dir zu. Man kommt sich dann vor, als ob man der Mittelpunkt des Universums wäre. Wissen Sie, das ist echt verführerisch.«
»Und Sie sind nie mehr nach Hause zurückgekehrt?«
»Doch, bin ich. Ich wollte immer weglaufen und nie umkehren. Mein Bruder hat das gemacht. Er ist mit achtzehn weggegangen und hat nicht mehr zurückgeblickt. Aber ich war nicht mutig genug. Meine Eltern – wir haben in San Mateo gewohnt – waren äußerst streng. Wie diese Ausbilder beim Militär. Mein Vater war der Chef der Santa Clara Bank and Trust.«
»Moment, der Whitfield?«
»Ja. Der Multimillionär. Der einen beträchtlichen Teil des Silicon Valley finanziert und den Zusammenbruch überlebt hat. Der in die Politik wollte – bis seine Tochter für so großes Medieninteresse gesorgt hat.« Ein gequältes Lächeln. »Haben Sie schon mal jemanden getroffen, der von seinen Eltern verstoßen wurde? Jetzt ja... Wie dem auch sei, als ich aufwuchs, waren sie sehr autoritär und haben mir bis in die kleinste Kleinigkeit Vorschriften gemacht. Wie mein Zimmer auszusehen und was ich anzuziehen hatte, welche Schulfächer ich belegen durfte und wie meine Zensuren ausfallen mussten. Bis ich vierzehn war, wurde ich regelmäßig übers Knie gelegt, und ich glaube, mein Vater hat nur damit aufgehört, weil meine Mutter zu ihm sagte, bei einem Mädchen meines Alters könnte das die Leute auf komische Gedanken bringen... Die beiden haben behauptet, es geschehe ja alles nur aus
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