Die Menschenleserin
behauptete. Er erzählte sogar ein paar Witze, auf eine trockene Art, die Kathryn an ihren verstorbenen Mann erinnerte. Bill hatte mit Kellogg nicht nur den Beruf gemeinsam gehabt, sondern auch die unbeschwerte Natur – zumindest sobald der Dienstausweis weggesteckt war.
Die Gesprächsthemen bewegten sich von Musik zu Anne O’Neils Kritik an der Kunstszene von San Francisco und weiter zur Politik im Mittleren Osten, in Washington und Sacramento sowie zu der viel wichtigeren Geschichte eines in Gefangenschaft geborenen Seeotterbabys, das zwei Tage zuvor im Aquarium das Licht der Welt erblickt hatte.
Es war ein schöner Abend: Freunde, Lachen, Essen, Wein, Musik.
Doch Kathryn Dance konnte ihn nicht so ganz genießen, denn für sie zog sich ein Gedanke quer durch das ansonsten fröhliche Beisammensein, allgegenwärtig wie die vibrierende Basssaite von Martines alter Gitarre: Daniel Pell war weiterhin auf freiem Fuß.
... Mittwoch
... Siebenundzwanzig
Kathryn Dance saß in einem der kleinen Häuser des Point Lobos Inn – es war ihr erster Aufenthalt in dieser Nobelherberge. Man hatte die luxuriöse Wohnanlage an einer stillen Straße abseits des Highway 1 errichtet, südlich von Carmel, am Rand des zerklüfteten und wunderschönen Naturschutzgebietes, nach dem das Hotel benannt war. Die im Tudorstil gehaltenen Bauten waren sehr abgelegen – eine lange Zufahrt trennte sie von der Straße -, und der Deputy des Monterey County Sheriff’s Office, der in seinem Wagen vor dem Haus saß, hatte uneingeschränkte Sicht auf jeden, der sich nähern würde, was der Grund war, aus dem Dance sich ausgerechnet für dieses Gebäude entschieden hatte.
Kathryn rief O’Neil an. Im Augenblick ging er einer Vermisstenmeldung aus Monterey nach. Dann sprach sie mit TJ und Carraneo. TJ hatte nichts zu berichten, und der Neuling sagte, es sei ihm immer noch nicht gelungen, ein billiges Motel oder eine Pension zu finden, in denen Pell abgestiegen sein könnte. »Ich habe es bis oben nach Gilroy versucht und...«
» Billige Hotels?«
Eine Pause. »Ja, stimmt, Agent Dance. Um die teuren Adressen hab ich mich gar nicht erst gekümmert. Ein Ausbrecher hätte doch kaum genug Geld, um sie sich leisten zu können.«
Dance musste an Pells geheimes Telefonat in Capitola denken, an die neuntausendzweihundert Dollar. »Womöglich glaubt Pell, dass Sie genau das denken würden. Was bedeutet...« Sie überließ es Carraneo, die Schlussfolgerung zu ziehen.
»... dass es schlauer wäre, sich eine teure Unterkunft zu suchen. Hm. Okay. Ich gehe der Sache nach. Moment. Wo sind Sie gerade, Agent Dance? Glauben Sie, er könnte vielleicht...?«
»Die Leute hier habe ich bereits alle überprüft«, beruhigte sie ihn. Sie unterbrach die Verbindung, sah mal wieder auf die Uhr und fragte sich: Wird diese hirnrissige Idee sich tatsächlich irgendwie auszahlen?
Fünf Minuten später klopfte es an der Tür. Dance öffnete und sah den stämmigen CBI-Agenten Albert Stemple vor sich, der neben einer knapp dreißigjährigen Frau aufragte. Die untersetzte Linda Whitfield hatte ein hübsches, völlig ungeschminktes Gesicht und kurzes rotes Haar. Ihre Kleidung war ein wenig schäbig: eine schwarze Stretchhose mit glänzenden Knien und ein ausgefranster roter Pullover, dessen V-Ausschnitt ein zinnernes Kreuz umrahmte. Dance nahm keine Spur von Parfum wahr, und Lindas Fingernägel waren kurz und nicht lackiert.
Die Frauen gaben sich die Hand. Lindas Händedruck war fest.
Stemple zog eine Augenbraue hoch, was hieß: Gibt es sonst noch etwas?
Dance dankte ihm. Der große Mann stellte Lindas Koffer ab und zog sich zurück. Dance verriegelte die Tür, und die Frau betrat das Wohnzimmer des kleinen Hauses, das zwei separate Schlafräume besaß. Sie musterte die elegante Umgebung, als habe sie bislang nur in Jugendherbergen genächtigt. »Meine Güte.«
»Ich habe Kaffee aufgesetzt.« Dance wies auf die kleine Küche.
»Lieber Tee, falls welcher da ist.«
Dance schenkte ihr eine Tasse ein. »Ich hoffe, Sie werden nicht lange bleiben müssen. Wenn es geht, nicht mal über Nacht.«
»Gibt es etwas Neues über Daniel?«
»Nein, leider nicht.«
Linda sah zu den Schlafzimmern, als würde die Auswahl eines der Räume sie verpflichten, länger als gewünscht zu bleiben. Ihre heitere Gelassenheit geriet kurz ins Wanken, behielt aber die Oberhand. Sie suchte sich eines der Zimmer aus, brachte ihren Koffer hinein und kehrte gleich darauf zurück. Dann nahm sie die Tasse
Weitere Kostenlose Bücher