Die Menschenleserin
die zu langen Hosenbeine um. Er klebte dem Beamten den Mund zu und fesselte ihn mit den eigenen Handschellen. Die Dienstwaffe und Ersatzmunition des Mannes verstaute er in der Tasche, und die mitgebrachte Glock steckte er ins Holster. Er war mit dieser Pistole inzwischen vertraut und hatte sie in ungeladenem Zustand oft genug abgefeuert, um sich an den Abzugswiderstand zu gewöhnen.
Jennie sammelte derweil die Blumen ein, die unter dem Briefkasten auf der Erde lagen, und warf sie in eine Einkaufstüte. Sie hatte ihre Rolle als Hausfrau überzeugend gespielt und den Cop perfekt abgelenkt. Als Pell den armen Teufel dann umgehauen hatte, hatte sie kaum mit der Wimper gezuckt.
Die Lektion von der »Ermordung« Susan Pembertons war ein voller Erfolg gewesen; Jennie hatte sich der Finsternis in ihrem Innern ein großes Stück genähert. Aber er musste vorsichtig bleiben. Den Deputy zu töten wäre zu viel gewesen. Dennoch, sie machte gute Fortschritte. Pell war begeistert. Es gab für ihn nichts Erfreulicheres, als eine fremde Persönlichkeit nach seinen Wünschen umzuformen.
»Hol den Wagen, Liebling.« Er reichte ihr die Gärtnerverkleidung.
Sie strahlte ihn an. »Ich bin gleich wieder da.« Dann drehte sie sich um und eilte mit der Kleidung, der Einkaufstüte und der Schaufel die Straße hinunter. Sie blickte kurz zurück und formte mit den Lippen eine stumme Botschaft: »Ich liebe dich.«
Pell sah ihr hinterher und musterte vergnügt ihren selbstsicheren Schritt.
Dann wandte er sich ab und ging langsam die Auffahrt zum Haus des Mannes hinauf, der sich auf unverzeihliche Weise an ihm versündigt hatte: der frühere Staatsanwalt James Reynolds.
Die Gardine an einem der vorderen Fenster war nicht ganz zugezogen. Daniel Pell spähte hinein. Er sah Reynolds an einem schnurlosen Telefon, in der anderen Hand eine Flasche Wein, wie er von einem Zimmer ins andere ging. Eine Frau – seine Ehefrau, schätzte Pell – betrat einen Raum, bei dem es sich um die Küche zu handeln schien. Sie lachte.
Pell hatte gedacht, es würde heutzutage – mit all den Computern, dem Internet und Google – kein Problem mehr sein, praktisch jeden aufzuspüren. Er hatte zum Beispiel so manches über Kathryn Dance herausgefunden, das ihm noch nützlich sein könnte. Aber James Reynolds war unsichtbar. Kein Eintrag im Telefonbuch, keine Unterlagen beim Finanzamt, keine Adressen in den alten Staats-und Bezirksverzeichnissen oder den Listen der Anwaltskammer.
Letzten Endes wäre es ihm doch noch gelungen, den Mann anhand der öffentlich zugänglichen Dokumente aufzufinden, vermutete Pell, aber derzeit konnte er wohl kaum Einsicht in die Akten genau jenes Bezirksgerichts nehmen, aus dem er gerade erst geflohen war. Außerdem hatte er wenig Zeit. Er musste seine Angelegenheiten in Monterey regeln und verschwinden.
Dann jedoch hatte er seinen Geistesblitz gehabt und sich den Onlinearchiven der örtlichen Zeitungen gewidmet. In der Peninsula Times war er auf eine Meldung über die Hochzeit der Tochter des Staatsanwalts gestoßen. Daraufhin hatte er die Rezeption des Veranstaltungsorts angerufen, das Del Monte Spa and Resort, und die Agentur in Erfahrung gebracht, von der die Feier geplant worden war: die Brock Company. Ein bisschen Kaffee – und Pfefferspray – mit Susan Pemberton hatten Pell dann die Akten verschafft, in denen der Name und die Anschrift des Mannes standen, der die Hochzeit bezahlt hatte: James Reynolds.
Und hier war er nun.
Drinnen bewegte sich wieder etwas.
Ein Mann Ende zwanzig hielt sich ebenfalls hier auf. Vielleicht ein Sohn – einer der beiden Brüder der Braut. Pell würde sie natürlich alle töten müssen und auch sonst jeden im Haus. Die Familie war ihm eigentlich egal, aber er konnte es sich nicht leisten, jemanden am Leben zu lassen. Ihr Tod war aus praktischen Erwägungen unausweichlich: damit Pell und Jennie mehr Zeit zur Flucht hatten. Er würde die Leute mit vorgehaltener Pistole in einen abgeschlossenen Bereich zwingen – in ein Badezimmer oder einen Wandschrank – und dann das Messer benutzen, damit niemand Schüsse hörte. Mit etwas Glück würde man die Leichen erst finden, nachdem er seine andere Mission hier auf der Halbinsel abgeschlossen und sich längst aus dem Staub gemacht hatte.
Der Staatsanwalt beendete nun das Telefonat und drehte sich um. Pell duckte sich, überprüfte seine Pistole und klingelte an der Tür. Von drinnen hörte man ein Geräusch. Im Guckloch schien ein Schatten
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