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Die Menschenleserin

Die Menschenleserin

Titel: Die Menschenleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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fragte Overby. »Möchten Sie Ihre Leute verständigen?«
    O’Neil hielt kurz inne. Dann rief er seine Dienststelle an und ließ sich mit dem Leiter des Sondereinsatzkommandos verbinden.
     
    Das gedämpfte Licht des Morgens fiel zum Fenster herein. Daniel Pell lag im Bett und dachte, dass sie von nun an besonders vorsichtig sein mussten. Die Polizei wusste inzwischen, wie er in der Latino-Verkleidung aussah. Er konnte seine Haut zwar wieder etwas aufhellen und abermals das Haar ändern, aber auch damit würden sie rechnen.
    Trotzdem konnte er noch nicht von hier verschwinden. Er hatte noch eine weitere Mission auf der Halbinsel zu erledigen, was der einzige Grund war, aus dem er sich hier aufhielt.
    Pell machte Kaffee, und als er mit den beiden Tassen zum Bett zurückkehrte, blickte Jennie ihm entgegen.
    Ihre Miene war anders, genau wie letzte Nacht. Sie schien reifer zu sein als zuvor.
    »Was ist, Liebling?«
    »Kann ich dich etwas fragen?«
    »Sicher.«
    »Du kommst nicht mit mir zurück nach Anaheim, nicht wahr?«
    Ihre Worte erwischten ihn kalt. Er zögerte und überlegte, wie er reagieren sollte. »Wie kommst du darauf?«, fragte er dann.
    »Ich habe einfach so ein Gefühl.«
    Pell stellte den Kaffee auf den Tisch. Dann wollte er lügen – nichts fiel ihm leichter. Und er wäre vermutlich damit durchgekommen. Stattdessen sagte er: »Ich habe andere Pläne für uns, Liebling. Das habe ich dir noch nicht erzählt.«
    »Ich weiß.«
    »Wirklich?« Er war überrascht.
    »Ich habe es schon die ganze Zeit gewusst. Nun ja, gewusst habe ich es eigentlich nicht. Aber mir war so.«
    »Nachdem wir uns hier noch um einiges gekümmert haben, gehen wir anderswohin.«
    »Wohin?«
    »Ich kenne da so einen Ort, fernab von allem . Niemand sonst wohnt dort. Es ist herrlich dort, wunderschön. Keiner wird uns stören. Es liegt auf einem Berg. Magst du die Berge?«
    »Na klar, wieso nicht?«
    Das war gut. Denn Daniel Pell war der Eigentümer eines Berges.
    Soweit es ihn betraf, war seine Tante in Bakersfield der einzige anständige Mensch in seiner leiblichen Familie. Tante Barbara hielt ihren Bruder, Pells Vater, für verrückt, diesen kettenrauchenden Möchtegernpfarrer, der ganz versessen darauf war, buchstabengetreu den Vorschriften der Bibel zu folgen, voller Angst vor Gott und davor, eigenständige Entscheidungen zu treffen, als könnte Er sich beleidigt fühlen. Daher versuchte die Frau nach Kräften, die beiden Söhne von ihm loszueisen. Richard wollte nichts mit ihr zu tun haben. Aber sie und Daniel hatten viel Zeit zusammen verbracht. Sie engte ihn nicht ein, machte ihm keine Vorschriften. Zwang ihn nicht, die Putzfrau zu spielen, und erhob niemals ihre Stimme gegen ihn, geschweige denn ihre Hand. Sie ließ ihn nach Belieben kommen und gehen, gab Geld für ihn aus und interessierte sich dafür, womit er sich die Zeit vertrieb. Sie unternahm etwas mit ihm. Pell erinnerte sich, dass sie gemeinsam ins Grüne gefahren waren, um zu picknicken. Sie waren in den Zoo gegangen und ins Kino – wo er in einer Wolke aus Popcornduft und dem schweren Geruch ihres Parfums saß und gebannt die unerschütterlich selbstsicheren Helden und Schurken Hollywoods auf der Leinwand bewunderte.
    Sie teilte außerdem ihre Ansichten mit ihm. Dazu zählte auch ihre Überzeugung, dass es irgendwann einen verheerenden landesweiten Rassenkrieg geben würde (sie tippte auf den Jahrtausendwechsel, aber da lag sie falsch). Also kaufte sie mehr als achtzig Hektar Waldgebiet in Nordkalifornien, einen Berggipfel in der Nähe des Mount Shasta. Daniel Pell war nie ein Rassist gewesen, aber er war auch nicht dumm, und als die Tante über den bevorstehenden großen Krieg zwischen Schwarz und Weiß schwadronierte, stand er hundertprozentig hinter ihr.
    Sie überschrieb das Land ihrem Neffen, damit er und andere »anständige, gute, rechtschaffene Leute« (womit »Kaukasier« gemeint waren) dorthin fliehen konnten, wenn das große Morden anfangen würde.
    Zunächst hatte Pell, der damals noch jung war, sich nicht viel von dem Ort versprochen. Aber dann war er dorthin getrampt und hatte sich sofort heimisch gefühlt. Er liebte den Ausblick und die Luft, aber am meisten gefiel ihm die Vorstellung, dass man dort unter sich war, ohne Einmischung der Regierung und etwaiger unliebsamer Nachbarn. (Es gab dort sogar einige große Höhlen – und er stellte sich oft vor, wozu man sie nutzen konnte, wobei der Ballon in seinem Innern stets kurz vor dem Platzen stand.) Er

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