Die Menschenleserin
überspringen konnte. Sie dachte daran, sich stattdessen vom Haus zu entfernen, weiter nach hinten in den Garten, aber dann konnte er sie zu Boden reißen und ins Gebüsch zerren, wo er …
Nein, das war zu schrecklich.
Schluchzend schüttelte Theresa langsam den Kopf. Sie konnte die Angst tatsächlich schmecken. Ihre Kräfte verließen sie. Sie hielt nach einer Waffe Ausschau. Nichts: lediglich ein Randstein, ein Vogelfutterhäuschen, Die gesammelten Gedichte von Emily Dickinson .
Sie sah wieder Pell an.
»Sie haben meine Eltern getötet. Sie... Tun Sie mir nichts!«
Er runzelte die Stirn. »Mein Gott, nein«, sagte der Mann mit großen Augen. »Oh, nein, ich möchte bloß mit Ihnen reden. Ich bin nicht Daniel Pell, ich schwöre. Sehen Sie.«
Er war noch drei Meter entfernt und warf etwas in ihre Richtung. »Sehen Sie nach. Auf der Rückseite. Drehen Sie es um.«
Theresa blickte zum Haus. Dieses eine Mal, dass sie ihre Tante gebraucht hätte, war die Frau nirgends zu entdecken.
»Da«, sagte der Mann.
Das Mädchen trat vor – und er wich zurück, um sie nicht zu bedrängen.
Sie kam näher und schaute nach unten. Es war ein Buch. Ein Fremder in der Nacht von Morton Nagle.
»Das bin ich.«
Theresa wollte es nicht aufheben, aber sie drehte es mit dem Fuß um. Auf der Rückseite prangte das Foto einer jüngeren Ausgabe des Mannes vor ihr.
Sagte er die Wahrheit?
Theresa wurde auf einmal klar, dass sie Daniel Pell nur auf einer Handvoll acht Jahre alter Bilder gesehen hatte. Dazu hatte sie sich im Internet heimlich einige Zeitungsartikel heraussuchen müssen – ihre Tante hatte gewarnt, es würde sie in psychischer Hinsicht um Jahre zurückwerfen, falls sie irgendetwas über die Morde las. Doch das Autorenfoto vor ihr wies keinerlei Ähnlichkeit mit dem hageren, unheimlichen Mann auf, an den sie sich erinnerte.
Theresa wischte sich über das Gesicht. Und wurde schlagartig wütend, als wäre ein Ballon geplatzt. »Was wollen Sie hier? Sie haben mir eine Scheißangst eingejagt.«
Der Mann zog sich die rutschende Hose hoch, als wolle er näher kommen. Aber offenbar entschied er sich dagegen. »Es gab keine andere Möglichkeit, mit Ihnen zu reden. Ich habe gestern mit Ihrer Tante gesprochen, als sie beim Einkaufen war. Ich wollte, dass sie Sie um etwas bittet.«
Theresa schaute zu dem Zaun.
»Die Polizei ist unterwegs, ich weiß«, sagte Nagle. »Ich habe die Alarmanlage am Zaun bemerkt. Die werden in drei oder vier Minuten hier sein und mich verhaften. Das geht in Ordnung. Aber ich muss Ihnen etwas sagen. Der Mann, der Ihre Eltern ermordet hat, ist aus dem Gefängnis entflohen.«
»Ich weiß.«
»Ehrlich? Ihre Tante...«
»Lassen Sie mich in Ruhe!«
»In Monterey gibt es eine Polizistin, die hinter ihm her ist, aber sie braucht Hilfe. Ihre Tante wollte Ihnen nichts ausrichten, und falls Sie elf oder zwölf wären, würde ich das hier niemals tun.
Aber Sie sind alt genug, um selbst für sich zu entscheiden. Die Frau möchte mit Ihnen reden.«
Theresa sah ihn verständnislos an. »Eine Polizistin?«
»Bitte, rufen Sie sie einfach an. Sie ist in Monterey. Sie können … O Gott.«
Der Schuss hinter Theresa war erstaunlich laut, viel lauter als im Fernsehen. Er ließ die Fenster klirren und die Vögel erschrocken in den klaren Himmel aufsteigen.
Theresa zuckte zusammen und fiel auf die Knie, während Morton Nagle nach hinten auf den nassen Rasen taumelte und mit den Armen ruderte.
Mit vor Entsetzen geweiteten Augen blickte das Mädchen zu der Terrasse hinter dem Haus.
Komisch, sie hatte gar nicht geahnt, dass ihre Tante eine Waffe besaß, geschweige denn, dass sie wusste, wie man sie abfeuerte.
TJ Scanlons ausführliche Befragung von James Reynolds’ Nachbarschaft hatte zu keinen brauchbaren Zeugen oder Spuren geführt.
»Nichts über das Auto. Und auch sonst nichts.« Er rief aus der Nähe des Hauses an.
Dance saß in ihrem Büro und streckte sich. Ihre nackten Füße spielten mit einem der drei Paar Schuhe herum, die unter ihrem Schreibtisch standen. Sie wollte unbedingt wissen, was für einen Wagen Pell fuhr, wenn sie schon nicht das Nummernschild bekommen konnte; Reynolds hatte lediglich ausgesagt, es sei eine dunkle Limousine gewesen, und der Deputy, der mit der Schaufel niedergeschlagen worden war, konnte sich an überhaupt kein Fahrzeug erinnern. Die Spurensicherung des MCSO hatte weder Partikel noch anderes forensisches Beweismaterial gefunden, das ihnen auch nur den geringsten
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