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Die Menschenleserin

Die Menschenleserin

Titel: Die Menschenleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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Zuerst hatte ich eine Meinung, dann habe ich sie geändert. Jeder gute Beamte lässt sich umstimmen.«
    »Durch vernünftige Gründe. Durch logische Analyse .«
    »Was ist mit deinem Urteilsvermögen? Wie objektiv bist du?«
    »Ich? Wieso sollte ich nicht objektiv sein?«
    »Wegen Juan.«
    Seinem Blick war eine schwache Zustimmungsreaktion zu entnehmen. Dance hatte fast ins Schwarze getroffen, und sie fragte sich, ob der Detective sich für den Tod des jungen Kollegen irgendwie verantwortlich fühlte. Vielleicht glaubte er, Millar nicht gut genug vorbereitet zu haben.
    Seine Schützlinge ...
    Sie und O’Neil stritten sich nicht zum ersten Mal; wenn man beruflich viel miteinander zu tun hat und gleichzeitig befreundet ist, bleiben gelegentliche Komplikationen nicht aus. Aber es hatte dabei noch nie ein so scharfer Tonfall vorgeherrscht. Und warum überschritt er mit seinen Kommentaren die Grenze zu ihrem Privatleben? Das war neu.
    Nach kinesischen Maßstäben sah es fast wie Eifersucht aus.
    Sie verstummten. Der Detective hob beide Hände und zuckte die Achseln. Die symbolische Geste bedeutete: Ich habe meinen Teil gesagt. Die Anspannung im Raum war so fest wie dieser verschlungene Kiefernknoten, dessen Fasern sich zu stählerner Härte verwoben hatten.
    Sie setzten ihr Gespräch über die nächsten Schritte fort: Sie würden aus Orange County zusätzliche Details über Jennie Marston anfordern, sich weiter nach Augenzeugen umsehen und die im Sea View Motel gesicherten Spuren untersuchen. Carraneo sollte mit dem Foto der Frau den Flughafen, den Busbahnhof und die Autovermietungen abklappern. Sie diskutierten auch einige andere Ideen, aber die Temperatur im Büro war merklich gefallen, von Sommer-auf Herbstniveau, und als Winston Kellogg den Raum betrat, zog O’Neil sich zurück und sagte, er müsse sich mit seiner Dienststelle besprechen und den Sheriff informieren. Seine oberflächlich gemurmelte Verabschiedung war an keinen der beiden gerichtet.
    Morton Nagles Hand schmerzte immer noch von dem Schnitt, den er sich zugezogen hatte, als er über den Maschendrahtzaun der Bollings geklettert war. Er schaute zu dem Aufseher, der vor seiner Zelle des Untersuchungsgefängnisses von Napa County saß.
    Der große Latino erwiderte den Blick kalt und ungerührt.
    Anscheinend hatte Nagle das in Vallejo Springs schlimmstmögliche Verbrechen begangen – nicht etwa die juristisch relevanten Straftaten des unbefugten Betretens und der tätlichen Bedrohung (wie, zum Teufel, waren sie darauf gekommen?), sondern das weitaus verhängnisvollere Delikt, die Tochter der Stadt aus der Fassung gebracht zu haben.
    »Ich habe das Recht auf einen Anruf.«
    Keine Reaktion.
    Er wollte seiner Frau mitteilen, dass es ihm gut ging. Vor allem aber wollte er Kathryn Dance wissen lassen, wo Theresa war. Er hatte seine Haltung geändert und nahm nun keine Rücksicht mehr auf sein Buch oder seine journalistische Standesehre. Verflucht noch mal, er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um dafür zu sorgen, dass Daniel Pell eingefangen und nach Capitola zurückgeschleift wurde.
    Er enthüllte das Böse nicht, sondern er griff es an. Wie ein Hai. Theresas Anblick hatte ihn endgültig überzeugt: ein liebes, hübsches, lebhaftes Mädchen, das es verdient hätte, das normale Leben eines Teenagers zu führen, doch das unverfälschte Böse hatte jede diesbezügliche Hoffnung zunichtegemacht. Den Menschen ihre Geschichte zu erzählen war nicht genug; Morton Nagle wollte Pells Kopf.
    Doch offenbar würde man ihn für so lange wie irgend möglich von der Außenwelt abschneiden.
    »Ich möchte wirklich gern telefonieren.«
    Der Wärter sah ihn an, als hätte man Nagle vor der Sonntagsschule beim Crackverkauf an Kinder ertappt, und sagte nichts.
    Nagle erhob sich und ging auf und ab. Der Blick des Aufsehers befahl: Setzen. Nagle setzte sich.
    Zehn lange, lange Minuten später hörte er, wie eine Tür aufging und Schritte sich näherten.
    »Nagle.«
    Er sah einen anderen Wärter vor sich. Noch größer als der erste.
    »Aufstehen.« Der Mann drückte einen Knopf, und die Tür öffnete sich. »Hände ausstrecken.«
    Es klang lächerlich, als würde jemand einem Kind Süßigkeiten anbieten. Nagle streckte die Arme aus und ließ sich Handschellen anlegen.
    »Mitkommen.« Der Mann packte mit festem Griff seinen Oberarm. Nagle roch Knoblauch und Zigarettenrauch. Beinahe wäre er unwillkürlich davor zurückgewichen, aber das wäre wohl keine so gute Idee gewesen.

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