Die Menschenleserin
Krankenhausmitarbeiter hatten mindestens ein halbes Dutzend Mal die Polizei verständigt, weil der Verdacht auf häusliche Gewalt bestand, und zwar gegen ihren Exmann und mindestens vier weitere Partner. Das Sozialamt war auf den Fall aufmerksam geworden, aber Jennie hatte nie Anzeige erstattet oder gar ein Unterlassungsurteil erwirkt.
Genau die Sorte Frau, die jemandem wie Daniel Pell zum Opfer fallen würde.
Dance erwähnte das gegenüber O’Neil. Der Detective nickte. Er sah aus dem Fenster zu zwei Kiefern, die im Laufe der Jahre zusammengewachsen waren und ungefähr auf Augenhöhe einen dicken Knoten gebildet hatten. Auch Dance hatte die Angewohnheit, auf dieses kuriose Baumpaar zu starren, wenn sich aus den Fakten eines Falls einfach keine hilfreichen Erkenntnisse ergeben wollten.
»Woran denkst du?«, fragte sie.
»Willst du das wirklich wissen?«
»Ich hab dich immerhin gefragt, oder?« In gutgelauntem Tonfall.
Die Stimmung färbte nicht ab. »Du hattest recht. Er hatte unrecht«, sagte O’Neil gereizt.
»Kellogg? Bei dem Motel?«
»Wir hätten deinem ursprünglichen Plan folgen und sofort eine Überwachung in die Wege leiten sollen, als wir von dem Motel erfahren haben. Nicht erst eine halbe Stunde damit verschwenden, die Zugriffteams zusammenzustellen. Deshalb ist Pell entwischt. Irgendjemand hat unabsichtlich etwas verraten.«
Instinkt einer Katze ...
Sie hasste es, sich rechtfertigen zu müssen, vor allem gegenüber jemandem, der ihr so nahestand. »Der Zugriff erschien zu dem Zeitpunkt sinnvoll; es war so viel in Bewegung, und wir konnten schnell zuschlagen.«
»Nein, er war nicht sinnvoll. Deshalb hast du gezögert. Du bist dir bis zuletzt nicht sicher gewesen.«
»Wer kann sich in solchen Situationen schon einer Sache ›sicher‹ sein?«
»Okay, du hast gespürt , dass es der falsche Ansatz war, und normalerweise kannst du dich auf dein Gefühl verlassen.«
»Wir hatten einfach Pech. Wenn wir schneller vor Ort gewesen wären, hätten wir ihn vermutlich erwischt.« Es tat ihr leid, dies sagen zu müssen, denn sie fürchtete, er würde ihre Worte als Kritik am MCSO auffassen.
»Und es wären Menschen gestorben. Wir hatten verdammtes Glück, dass niemand zu Schaden gekommen ist. Kelloggs Plan konnte nur mit einer Schießerei enden. Insgeheim bin ich froh darüber, dass Pell nicht mehr da war. Es hätte womöglich ein Blutbad gegeben.« Er verschränkte die Arme – eine Schutzgeste, die ein wenig lustig wirkte, denn er trug immer noch seine Weste. »Du gibst die Leitung der Operation aus der Hand. Deiner Operation.«
»An Winston?«
»Ja, genau. Er ist ein Berater. Aber es sieht so aus, als würde er den Fall leiten.«
»Er ist der Fachmann, Michael. Ich bin es nicht. Und du auch nicht.«
»Ach ja, ist er das? Tut mir leid, ich höre ihn über die Kultmentalität und über Profile reden. Aber ich sehe nicht, dass er sich an Pell herangearbeitet hätte. Das bist ganz allein du gewesen.«
»Sieh dir seine Reputation an, seine Vorgeschichte. Er ist ein Experte.«
»Okay, er hat in gewisser Weise den Durchblick. Das war ja auch hilfreich. Aber er war nicht Experte genug, um Pell vor einer Stunde zu fangen.« Er senkte die Stimme. »Ich weiß, bei der Entscheidung über diese Frage hat Overby dem Kerl den Rücken gestärkt. Was auch sonst? Er ist derjenige, der auf Kelloggs Mitwirkung bestanden hat. Du kriegst Druck vom FBI und von deinem Boss. Aber wir beide, du und ich, haben schon oft unter Druck gestanden. Wir hätten uns durchsetzen können.«
»Was genau willst du sagen? Dass ich mich aus irgendeinem Grund seinen Wünschen füge?«
Er sah weg. Eine Ausweichreaktion. Menschen stehen nicht nur unter Stress, wenn sie lügen; manchmal auch, wenn sie die Wahrheit sagen. »Ich sage, dass du Kellogg zu viel Kontrolle über die Operation einräumst. Und, ehrlich gesagt, auch über dich.«
»Weil er mich an meinen Mann erinnert?«, fuhr sie ihn an. »Ist es das, was du meinst?«
»Ich weiß es nicht. Sag du es mir. Erinnert er dich an Bill?«
»Das ist doch lächerlich.«
»Du hast das Thema zur Sprache gebracht.«
»Tja, alles, was über die Arbeit hinausgeht, geht dich aber nichts an.«
»Gut«, stellte O’Neil lakonisch fest. »Ich bleibe bei meiner professionellen Einschätzung. Winston lag voll daneben. Und du hast das gewusst und ihn trotzdem unterstützt.«
»›Gewusst?‹ Ich war zu fünfundfünfzig Prozent für und zu fünfundvierzig Prozent gegen den Zugriff beim Motel.
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