Die Menschenleserin
Kopf. Pell küsste sie auf den Scheitel, roch Schweiß und das säuerliche Färbemittel.
Noch ein Blick zum Fenster hinaus. Nach einem langen Moment traf Daniel Pell eine Entscheidung. »Lass uns einen kleinen Ausflug machen, Liebling.«
»Du willst dich nach draußen wagen? Ist das nicht zu gefährlich?«
»Ach, ich kenne einen Ort, an dem wir sicher sein werden.«
Sie küsste ihn. »Als hätten wir ein Rendezvous.«
»Wie bei einem Rendezvous.«
Sie setzten ihre Mützen auf und gingen zur Tür. Jennie blieb stehen und sah ihn forschend an. Ihr Lächeln war weg. »Alles in Ordnung, mein Schatz?«
Mein Schatz .
»Aber sicher, Liebling. Der Schreck von vorhin sitzt mir noch in den Knochen. Aber jetzt ist alles wieder gut. Besser geht’s gar nicht.«
Sie fuhren auf verschlungenen Pfaden zu einem Strand auf halber Strecke nach Big Sur, südlich von Carmel. Hölzerne Gehwege schlängelten sich zwischen Felsen und Dünen hindurch, die zum Schutz der empfindlichen Umwelt mit dünnen Drähten abgesperrt waren. Seeotter und Robben badeten in der tosenden Brandung, und bei Ebbe zeigten sich in den Salzwassertümpeln ganze Universen maritimen Lebens.
Es war einer der schönsten Strandabschnitte von ganz Zentralkalifornien.
Und einer der gefährlichsten. Jedes Jahr kamen hier drei oder vier Leute ums Leben, weil sie zum Fotografieren auf die schroffen Felsen kletterten, bis eine sechs Meter hohe Welle sie dann völlig überraschend in das sieben Grad kalte Wasser riss. Die Unterkühlung war tödlich, obwohl es bei den meisten Opfern gar nicht erst dazu kam, weil sie schreiend an den Felsen zerschmettert wurden oder sich im dichten Seetang verfingen und ertranken.
Meistens herrschte hier viel Betrieb, aber an einem so stürmischen und diesigen Tag war der Ort menschenleer. Daniel Pell und sein Liebling gingen vom Wagen zum Wasser. Fünfzehn Meter vor ihnen brandete eine graue Woge an die Felsen.
»Oh, ist das schön. Aber es ist kalt. Nimm mich in den Arm.«
Pell tat es. Fühlte sie zittern.
»Das ist ja toll. Bei mir zu Hause sind die Strände alle flach. Es gibt bloß Sand und Brandung. Es sei denn, man fährt nach La Jolla. Aber auch das lässt sich nicht mit dem hier vergleichen. Es ist sehr spirituell hier... Oh, sieh dir die an!« Jennie klang wie ein Schulmädchen. Sie starrte die Tiere an. Ein großer Otter balancierte einen Stein auf der Brust und schlug mit etwas Kleinerem dagegen.
»Was macht er da?«
»Er knackt eine Schale. Von einer Meeresschnecke oder Muschel oder so.«
»Wie haben die Tiere das gelernt?«
»Sie waren wohl ziemlich hungrig, schätze ich.«
»Da, wo wir hinfahren, dein Berg... ist es da auch so schön wie hier?«
»Ich finde, es ist sogar noch schöner. Und viel abgelegener. Wir wollen doch keine Touristen, oder?«
»Nein.« Sie griff sich an die Nase. Spürte sie, dass etwas nicht stimmte? Sie murmelte etwas, aber die Worte wurden vom Brausen des unablässig wehenden Windes übertönt.
»Was hast du gesagt?«
»Ach, ich sagte ›Engelsgesänge‹.«
»Das sagst du öfter, Liebling. Was meinst du damit?«
Jennie lächelte. »Stimmt, ich mache das häufig. Es ist wie ein Gebet oder Mantra. Ich sage es leise vor mich hin, und dann fühle ich mich besser.«
»Und dein Mantra lautet ›Engelsgesänge‹?«
Jennie lachte. »Als ich klein war und meine Mutter verhaftet wurde...«
»Weswegen?«
»Ach, es würde zu lange dauern, das alles aufzuzählen.«
Pell sah sich erneut um. Immer noch niemand zu sehen. »So schlimm, ja?«
»Denk dir was aus, sie hat es getan. Ladendiebstahl, Bedrohung, Belästigung. Tätlicher Angriff auch. Sie hat meinen Vater geschlagen. Und andere Männer, die mit ihr Schluss gemacht haben – und davon gab es eine Menge. Sobald sie sich geprügelt hat, kam die Polizei zu unserem Haus oder dahin, wo wir gerade waren, und oft hatten die Beamten es eilig und daher die Sirene eingeschaltet. Immer wenn ich dieses Geräusch hörte, dachte ich: Gott sei Dank, man wird sie für ein Weile wegbringen. Als würden die Engel kommen, um mich zu retten. Seitdem sind Sirenen für mich Engelsgesänge.«
»Engelsgesänge, das gefällt mir.« Pell nickte.
Plötzlich drehte er sie um und küsste sie auf den Mund. Er lehnte sich ein Stück zurück und sah ihr ins Gesicht.
In dasselbe Gesicht, das vor einer halben Stunde auf dem Fernsehschirm des Motelzimmers aufgetaucht war, während Jennie noch die Einkäufe erledigte.
»Im Fall Daniel Pell hat es eine neue
Weitere Kostenlose Bücher