Die Menschenleserin
und lief hinaus, als wolle er noch vor dem Foto in seinem Büro eintreffen.
Charles Overby trat in die Türöffnung. »Dieser Anruf aus Sacramento betrifft...«
»Moment, Charles.« Dance setzte ihn über die neueste Entwicklung in Kenntnis, und seine Laune besserte sich sofort.
»Tja, eine Spur. Gut. Endlich... Wie dem auch sei, da ist noch etwas. Sacramento wurde vom Sheriffbüro in Napa verständigt.«
»Napa?«
»Die haben jemanden namens Morton Nagle verhaftet.« Dance nickte langsam. Overby wusste nichts davon, dass sie den Autor gebeten hatte, ihnen bei der Suche nach der Schlafpuppe behilflich zu sein.
»Ich habe mit dem Sheriff gesprochen. Und er ist nicht glücklich.«
»Was hat Nagle angestellt?«, fragte Kellogg, sah Dance an und zog eine Augenbraue hoch.
»Die kleine Croyton wohnt irgendwo da oben mit ihrer Tante und ihrem Onkel. Nagle wollte sie offenbar überreden, dass sie sich von Ihnen befragen lässt.«
»Das stimmt.«
»Oh. Davon habe ich ja noch gar nichts gehört.« Er ließ das einen Moment wirken. »Die Tante hat sich geweigert. Aber heute Morgen ist er auf das Grundstück geschlichen und hat es bei dem Mädchen direkt versucht.«
So viel zum Thema unbeteiligter, objektiver Journalismus.
»Die Tante hat auf ihn geschossen.«
» Was ?«
»Sie hat ihn verfehlt, aber falls die Deputies nicht rechzeitig aufgetaucht wären, hätte sie ihn wohl beim zweiten Versuch erledigt, glaubt der Sheriff. Und diese Möglichkeit schien niemanden groß zu stören. Die nehmen an, wir hätten etwas damit zu tun. Das könnte sehr unangenehm werden.«
»Ich kümmere mich darum«, sagte Dance.
»Wir hatten doch nichts damit zu tun, oder? Das habe ich ihm nämlich versichert.«
»Ich kümmere mich darum.«
Overby dachte kurz darüber nach, gab ihr dann die Nummer des Sheriffs und ging zurück in sein Büro. Dance rief den Mann an und schilderte ihm den Sachverhalt.
Der Sheriff ächzte auf. »Nun, Agent Dance, ich kann mir vorstellen, was für Probleme Sie im Augenblick haben, mit Pell und so. Hier in den Nachrichten läuft kaum noch was anderes, das dürfen Sie mir glauben. Aber wir können ihn nicht einfach freilassen. Theresas Tante und Onkel haben Strafanzeige erstattet. Und ich muss Ihnen sagen, dass wir alle hier immer ein Auge auf dieses Mädchen haben, nach allem, was sie durchgemacht hat. Das Gericht hat eine Kaution von hunderttausend Dollar festgesetzt, und keiner der gewerblichen Kautionssteller ist daran interessiert, den Fall zu übernehmen.«
»Kann ich den Staatsanwalt erreichen?«
»Der ist heute den ganzen Tag in einer Verhandlung.«
Morton Nagle würde etwas Zeit im Gefängnis verbringen müssen. Er tat Kathryn leid, und sie wusste seinen Sinneswandel zu schätzen. Aber sie konnte nichts tun. »Ich würde gern mit der Tante oder dem Onkel des Mädchens sprechen.«
»Ich wüsste nicht, was das nützen sollte.«
»Es ist wichtig.«
Eine Pause. »Tja, nun, Agent Dance, ich glaube wirklich nicht, dass die beiden mit Ihnen reden möchten. Ich bin mir sogar so gut wie sicher.«
»Können Sie mir nicht bitte die Nummer der beiden geben?«
Direkte Fragen sind oft am effektivsten.
Direkte Antworten aber auch. »Nein. Auf Wiederhören, Agent Dance.«
...Dreiundvierzig
Dance und O’Neil waren allein in ihrem Büro.
Sie hatten vom Orange County Sheriff’s Department erfahren, dass Jennie Marstons Vater tot und ihre Mutter nicht nur wegen mehrerer kleinerer Vergehen und Drogenmissbrauchs, sondern auch wegen psychischer Erkrankungen aufgefallen war. Der gegenwärtige Aufenthaltsort der Mutter war unbekannt; es gab außerdem noch einige Verwandte an der Ostküste, aber die hatten seit Jahren nichts mehr von Jennie gehört.
Dance fand heraus, dass Jennie auf dem Gemeindecollege ein Jahr lang Hauswirtschaftslehre studiert und dann abgebrochen hatte, offenbar um zu heiraten. Nach einem weiteren Jahr als Friseurin war sie in die Gastronomie gewechselt und hatte für eine Reihe von Partyservices und Bäckereien in Orange County gearbeitet. Sie galt als stille Kollegin, die immer pünktlich kam, ihre Arbeit tat und wieder nach Hause ging. Anscheinend hatte sie ein ziemlich einsames Leben geführt, denn die Deputies konnten weder Bekannte noch enge Freunde ausfindig machen. Ihr Exmann hatte seit geraumer Zeit keinen Kontakt mehr zu ihr, sagte jedoch, dass sie verdiene, was auch immer ihr zugestoßen sei.
Es überraschte nicht, dass diverse schwierige Beziehungen aktenkundig waren.
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