Die Menschenleserin
überlegte, ob es sich um eine gute oder schlechte Entwicklung handelte. In seinem Zuständigkeitsbereich war zwar wieder jemand getötet worden, aber wenigstens war es einer der Täter. Alles in allem, sagte er, würden die Medien und die Öffentlichkeit es wohl als Punkt für sein Team verbuchen.
»Meinen Sie nicht auch, Kathryn?«
Dance hatte jedoch keine Gelegenheit, eine Antwort zu formulieren, weil sich in diesem Moment der Empfangsschalter des CBI über die Gegensprechanlage meldete und ihr mitteilte, dass Theresa Croyton, die Schlafpuppe , eingetroffen sei.
Das Mädchen sah nicht so aus, wie Kathryn Dance erwartet hatte.
Theresa Croyton Bolling war groß und schlank, und das hellbraune, rötlich schimmernde Haar reichte ihr bis weit auf den Rücken. In ihrem linken Ohr steckten vier Metallknöpfe, in ihrem rechten Ohr fünf, und an den meisten Fingern trug sie silberne Ringe. Das ungeschminkte Gesicht über dem ausgebeulten Trainingsanzug war schmal, hübsch und blass.
Morton Nagle führte das Mädchen und dessen Tante, eine untersetzte Frau mit kurzem grauem Haar, in Dances Büro. Mary Bolling war ernst und vorsichtig, und dies war eindeutig der letzte Ort auf der Welt, an dem sie hätte sein wollen . Dance gab den beiden die Hand und begrüßte sie. Das Mädchen wirkte ungezwungen und freundlich, wenngleich ein wenig nervös; die Tante schien eher gehemmt zu sein.
Nagle würde natürlich bleiben wollen – schon vor Pells Ausbruch hatte er sich gewünscht, mit der Schlafpuppe sprechen zu dürfen. Doch anscheinend hatte man sich darauf geeinigt, dass er sich vorläufig zurückhielt, denn er sagte nun, er sei zu Hause erreichbar, falls man ihn benötige.
»Vielen Dank«, sagte Dance. Es kam von Herzen.
»Auf Wiedersehen, Mr. Nagle«, sagte Theresa.
Er nickte den beiden zum Abschied lächelnd zu – dem Teenager und der Frau, die versucht hatte, ihn zu erschießen (und die aussah, als würde sie gern eine zweite Chance erhalten). Nagle stieß sein typisches Kichern aus, zog sich die Hose hoch und ging.
»Danke, dass Sie gekommen sind. Nennt man Sie ›Theresa‹?«
»Meistens Tare.«
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich allein mit Ihrer Nichte sprechen würde?«, fragte Dance die Tante.
»Das geht in Ordnung«, sagte das Mädchen. Die Tante zögerte. »Es ist okay«, bekräftigte Theresa leicht genervt. Wie Musiker ihren Instrumenten vermochten junge Leute ihren Stimmen eine schier unendliche Vielfalt von Nuancen zu entlocken.
Dance hatte in einem Motel unweit der CBI-Zentrale ein Zimmer reserviert. Es war unter einem der fiktiven Namen gebucht, die sie bisweilen für Zeugen verwendete.
TJ brachte die Frau zum Büro von Albert Stemple, der sie zu dem Motel begleiten und dort mit ihr warten würde.
Als sie allein waren, kam Dance hinter ihrem Schreibtisch hervor und schloss die Tür. Sie wusste nicht, ob das Mädchen über verschüttete Erinnerungen verfügte, die sich anzapfen ließen und womöglich zu Pell führen könnten. Aber sie würde versuchen, es herauszufinden. Allerdings rechnete sie mit Schwierigkeiten. Ungeachtet Theresas starker Persönlichkeit und ihres mutigen Ausflugs hierher würde sie tun, was jede andere Siebzehnjährige dieses Universums in einer solchen Situation auch tun würde: unterbewusste Schranken errichten, um sich vor dem Schmerz des erneuten Durchlebens zu schützen.
Solange diese Barrieren nicht überwunden waren, würde man nichts aus dem Mädchen herausbekommen. Bei ihren Verhören und Befragungen wandte Dance keine Hypnose im klassischen Sinn an; sie wusste jedoch, dass entspannte Gesprächspartner, die zudem nicht von äußeren Einflüssen abgelenkt wurden, sich an Ereignisse erinnern konnten, die ihnen unter anderen Bedingungen nicht mehr eingefallen wären. Kathryn bat Theresa, auf der behaglichen Couch Platz zu nehmen und schaltete das helle Deckenlicht aus. Nur eine einzige gelbe Tischlampe brannte noch.
»Haben Sie es bequem?«
»Sicher, wieso nicht?« Dennoch hatte sie die Hände verschränkt, die Schultern gehoben und lächelte Dance schmallippig an. Stress, dachte Kathryn. »Dieser Mann, Mr. Nagle, hat gesagt, Sie wollten mich danach fragen, was an dem Abend passiert ist, an dem meine Eltern, mein Bruder und meine Schwester ermordet wurden.«
»Das stimmt. Ich weiß, dass Sie zu der Zeit geschlafen haben, aber...«
»Was?«
»Ich weiß, dass Sie während der Morde geschlafen haben.«
»Wer hat das behauptet?«
»Nun ja, all die
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