Die Menschenleserin
Zeit vor der Tat.
»Tare, ich würde gern wissen, was vorher passiert ist.«
»Vorher?«
»Ja. Fangen wir mit dem Tag an.«
Theresa runzelte die Stirn. »Oh, davon weiß ich kaum noch was. Ich meine, was an dem Abend geschehen ist, hat alles andere praktisch verdrängt.«
»Lassen Sie es uns versuchen. Denken Sie zurück. Es war Mai. Sie sind damals schon zur Schule gegangen, nicht wahr?«
»Ja.«
»Was für ein Wochentag war es?«
»Äh, es war Freitag.«
»Das haben Sie jetzt aber ziemlich schnell gewusst.«
»Oh, weil Dad mit uns freitags oft weggegangen ist. An dem Tag wollten wir eigentlich zu dem Vergnügungspark in Santa Cruz. Aber dann ist nichts daraus geworden, weil ich krank war.« Theresa rieb sich bei der Erinnerung die Augen. »Brenda und Steve – meine Schwester und mein Bruder – und ich wollten hin, und Mom wäre zu Hause geblieben, weil sie am Samstag eine Wohltätigkeitsveranstaltung oder so hatte und irgendwas vorbereiten musste.«
»Aber dann hat sich eure Planung geändert?«
»Ja. Wir waren sogar schon unterwegs, aber...« Sie senkte den Blick. »Mir wurde im Wagen schlecht. Also haben wir umgedreht und sind zurückgefahren.«
»Was hatten Sie? Etwas gegessen, das Ihnen nicht bekommen ist?«
»Eine Magen-Darm-Grippe.« Theresa verzog das Gesicht und hielt sich den Bauch.
»Oh, die sind gemein.«
»Ja, total.«
»Und wann waren Sie etwa wieder zu Hause?«
»So gegen siebzehn Uhr dreißig.«
»Und Sie haben sich gleich ins Bett gelegt.«
»Ja, stimmt.« Sie schaute zum Fenster hinaus auf den knorrigen Baum.
»Und dann sind Sie aufgewacht und haben den Fernseher gehört.«
Das Mädchen wickelte sich eine braune Strähne um den Finger. »Quebec.« Eine lachende Grimasse.
Kathryn Dance hielt inne. Ihr wurde klar, dass sie nun eine wichtige Entscheidung treffen musste.
Denn es bestand kein Zweifel daran, dass Theresa sie zu täuschen versuchte.
Während der beiläufigen Unterhaltung und später, als sie darüber sprachen, was Theresa aus dem Fernsehzimmer gehört hatte, war das kinesische Verhalten der jungen Frau entspannt und offen gewesen, obwohl sie eindeutig unter allgemeinem Stress stand – jeder, der von einem Polizeibeamten zu einem Fall befragt wird, ist nervös, auch ein unschuldiges Opfer.
Aber sobald Theresa anfing, von der Fahrt nach Santa Cruz zu erzählen, stockten ihre Worte, sie bedeckte Teile ihres Gesichts und der Ohren – abwehrende Gesten – und sah aus dem Fenster – um auszuweichen. Sie wollte ruhig und zwanglos wirken, doch der Stress, den sie empfand, offenbarte sich durch das Wippen ihres Fußes. Dance nahm das Stressmuster einer versuchten Irreführung wahr; das Mädchen befand sich in der Reaktionsphase der Verleugnung.
Alles, was Theresa ihr erzählte, stand vermutlich mit nachprüfbaren Fakten im Einklang. Aber eine Täuschung kann auf Ausflüchten, Weglassungen oder glatten Lügen beruhen. Zumindest gab es Dinge, die Theresa ihr verschwieg.
»Tare, während der Fahrt ist etwas Beunruhigendes passiert, nicht wahr?«
»Etwas Beunruhigendes? Nein. Ehrlich. Ich schwöre.«
Gleich ein Dreifachtreffer: zwei typische Formulierungen für eine Verleugnung sowie die Beantwortung einer Frage mit einer Gegenfrage. Das Mädchen war rot geworden, und der Fuß wippte wieder, eine deutliche Ansammlung von Stresssignalen.
»Na los, erzählen Sie es mir. Sie haben nichts zu befürchten. Erzählen Sie es mir.«
»Tja, wissen Sie … meine Eltern, mein Bruder und meine Schwester... wurden ermordet . Wer wäre da nicht durcheinander?« In der Äußerung schwang etwas Ärger mit.
Dance nickte teilnahmsvoll. »Ich meine die Zeit davor. Sie haben Carmel verlassen und fahren nach Santa Cruz. Sie fühlen sich nicht wohl. Sie kehren um. Was an dieser Fahrt hat Sie beunruhigt?«
»Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Das ist schon so lange her.«
Bei einer Person im Stadium der Verleugnung bedeuten diese Sätze: Ich weiß es noch genau, aber ich will nicht daran denken. Die Erinnerung ist zu schmerzhaft.
»Sie fahren so vor sich hin und...«
»Ich...«, setzte Theresa an und verstummte. Dann schlug sie die Hände vor das Gesicht und brach in Tränen aus. Ein wahrer Sturzbach, begleitet von atemlosem Schluchzen.
»Tare.« Dance stand auf und reichte ihr mehrere Papiertaschentücher, während die junge Frau hemmungslos, wenngleich leise, weinte und die Schluchzer wie ein Schluckauf klangen.
»Es ist okay«, sagte Kathryn mitfühlend und
Weitere Kostenlose Bücher