Die Menschenleserin
berührte ihren Arm. »Was auch immer geschehen ist – keine Angst. Alles wird gut.«
»Ich...« Das Mädchen war wie gelähmt; Dance sah, wie sehr Theresa mit sich rang. Was nun? Sie würde entweder mit allem herausrücken oder mauern – und in letzterem Fall wäre das Gespräch damit beendet.
»Ach, ich wollte schon immer darüber reden«, sagte sie schließlich. »Ich konnte einfach nicht. Nicht mit den Therapeuten oder meinen Freunden, meiner Tante…« Wieder Schluchzen. Die Brust eingesunken, das Kinn gesenkt, die Hände im Schoß oder vor dem Gesicht. Die lehrbuchmäßigen kinesischen Anzeichen dafür, dass Theresa Croyton in emotionaler Hinsicht das Stadium der Akzeptanz erreicht hatte. Die schreckliche Bürde, mit der sie gelebt hatte, würde endlich zur Sprache kommen. Sie legte ein Geständnis ab.
»Es ist alles meine Schuld. Es ist meine Schuld, dass sie tot sind!«
Nun lehnte sie den Kopf zurück gegen die Couch. Ihr Gesicht war rot, die Sehnen am Hals traten deutlich hervor, ihr Pullover war mit Tränen benetzt.
»Brenda und Steve und Mom und Dad… alles nur wegen mir!«
»Weil Sie krank geworden sind?«
»Nein! Weil ich so getan habe, als wäre ich krank!«
»Erzählen Sie es mir.«
»Ich wollte nicht zur Promenade fahren. Ich hatte absolut keine Lust, ich konnte es nicht ausstehen! Und mir fiel nichts anderes ein, als mich krank zu stellen. Ich hatte von diesen Fotomodellen gehört, die sich den Finger in den Hals stecken, um sich zu übergeben, damit sie nicht dick werden. Als wir auf dem Highway waren und gerade niemand hinsah, habe ich das dann gemacht. Ich habe mich auf der Rückbank übergeben und behauptet, mir wäre ganz furchtbar übel. Es war voll eklig, und alle waren sauer, und Dad hat umgedreht und ist zurück nach Hause gefahren.«
Das war es also. Die arme Theresa war überzeugt, ihre Familie sei wegen dieser Lüge abgeschlachtet worden. Und mit dieser furchtbaren Last hatte sie acht Jahre lang gelebt.
Eine Wahrheit war ans Tageslicht gekommen. Doch mindestens eine weitere blieb verborgen. Und Kathryn Dance wollte auch diese ergründen.
»Sagen Sie, Tare, weshalb wollten Sie nicht zum Pier fahren?«
»Einfach so. Es hat mir keinen Spaß gemacht.«
Das Eingeständnis einer Lüge führte nicht automatisch zu einer umfassenden Beichte. Das Mädchen war wieder in die Phase der Verleugnung zurückgeglitten.
»Warum? Sie können es mir sagen. Reden Sie weiter.«
»Ich weiß es nicht. Es hat mir einfach keinen Spaß gemacht.«
»Wieso nicht?«
»Tja, Dad war immer so beschäftigt. Also hat er uns Geld gegeben und gesagt, er würde uns später wieder einsammeln. Und dann ist er weggegangen, um Anrufe und so zu erledigen. Das war langweilig.«
Ihr Fuß wippte wieder, und sie drückte die Ohrstecker auf der rechten Seite in einem zwanghaften Muster: erst oben, dann unten und dann die drei in der Mitte. Der Stress fraß sie auf.
Dennoch waren es nicht nur die kinesischen Signale, die für Kathryn Dance deutlich auf eine Irreführung hinwiesen. Kinder – sogar eine siebzehnjährige Highschoolschülerin – lassen sich oft nur schwer kinesisch analysieren. Bei entsprechenden Verhören oder Befragungen wird daher zur Beurteilung des Wahrheitsgehaltes meistens mehr auf den Inhalt der Aussage geachtet – auf das, was gesagt wird – als darauf, wie es gesagt wird.
Was Theresa hier erzählte, ergab keinen Sinn – sowohl inhaltlich als auch im Hinblick auf Dances eigene Erfahrungen mit Kindern und dem besagten Vergnügungspark. Wes und Maggie zum Beispiel liebten Santa Cruz und hätten nichts lieber getan, als sich dort mit einer Tasche voll Geld stundenlang unbeaufsichtigt herumzutreiben. Für Kinder gab es da Hunderte von Verlockungen: Karussells, Essen, Musik, Spiele.
Und noch ein weiterer Widerspruch fiel Dance auf: Warum hatte Theresa an dem Freitag nicht einfach gesagt, sie wolle bei ihrer Mutter zu Hause bleiben? Ihr Vater und ihre Geschwister hätten doch ohne sie wegfahren können. Es war, als hätte sie verhindern wollen, dass überhaupt jemand nach Santa Cruz fuhr.
Dance überlegte kurz.
Von A nach B...
»Tare, Sie haben gesagt, Ihr Vater habe gearbeitet und Anrufe erledigt, während Sie, Ihr Bruder und Ihre Schwester Karussell gefahren sind?«
Sie senkte den Blick. »Ja, schätze schon.«
»Von wo aus hat er denn telefoniert?«
»Keine Ahnung. Er hatte ein Mobiltelefon. Damals waren die noch nicht allzu verbreitet. Aber er hatte eins.«
»Hat er sich je mit
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