Die Menschenleserin
war diese Frau in Uniform. Eine Polizistin. Ich sollte mich anziehen und... Das war’s.«
Dance fasste es in Gedanken zusammen: vierhundert Dollar, ein Gebrauchtwagenhändler, eine frankokanadische Provinz.
Und ein dritter Mann.
Wollte Pell nun nach Norden? Sie würde auf jeden Fall den Heimatschutz und die Einwanderungsbehörde verständigen, damit man die nördlichen Grenzübergänge im Auge behielt.
Dance ging mit dem Mädchen die Ereignisse jenes schrecklichen Abends ein zweites Mal durch.
Doch vergeblich. Theresa wusste nichts mehr.
Vierhundert Dollar... Kanada... Was ist Quebec?... gebrauchte Autos... Verbarg sich dahinter der Schlüssel zu dem Komplott um Daniel Pell?
Und dann kam Dance ein Gedanke, der überraschenderweise mit ihrer eigenen Familie zu tun hatte: mit ihr selbst, Wes und Maggie. Eine Idee nahm Gestalt an. Sie ließ sich die Fakten der Morde noch mal durch den Kopf gehen. Unmöglich... Aber dann wurde die Theorie immer wahrscheinlicher, obwohl Dance das Ergebnis nicht gefiel.
»Tare«, sagte sie zögernd, »könnte das so gegen neunzehn Uhr gewesen sein?«
»Ja, schon möglich.«
»Wo hat Ihre Familie gegessen?«
»Wo? Meistens im Wohnzimmer. Das Esszimmer durften wir nicht benutzen. Das war bloß für, na ja, festliche Anlässe.«
»Haben Sie während des Abendessens Fernsehen geschaut?«
»Ja, oft. Zumindest ich, mein Bruder und meine Schwester.«
»Und war das Wohnzimmer in der Nähe Ihres Zimmers?«
»Ja, gleich die Treppe hinunter. Woher haben Sie das gewusst?«
»Haben Sie schon mal Jeopardy gesehen?«
Sie runzelte die Stirn. »Ja.«
»Tare, ich frage mich, ob die Stimmen, die Sie gehört haben, vielleicht aus dem Fernseher gekommen sind. Womöglich hat jemand die Kategorie ›Geographie‹ für vierhundert Dollar gewählt. Und die Antwort war ›die französischsprachige Provinz von Kanada‹. Die zugehörige Frage würde lauten ›Was ist Quebec?‹«
Das Mädchen wurde still. Ihre Augen rührten sich nicht. »Nein«, sagte sie entschlossen und schüttelte den Kopf. »Nein, so war es nicht. Ich bin mir sicher.«
»Und die Stimme, die von den Gebrauchtwagen geredet hat – könnte das ein Werbespot gewesen sein? Jemand, der schnell und mit tiefer Stimme spricht; wie in der Autowerbung?«
Das Mädchen wurde rot vor Bestürzung. Dann kam Ärger hinzu. »Nein!«
»Aber eventuell?«, fragte Dance sanft.
Theresa schloss die Augen. »Nein«, flüsterte sie. Dann: »Vielleicht. Keine Ahnung.«
Deshalb hatte Reynolds die Aussage des Kindes nicht weiterverfolgt. Auch er war zu dem Schluss gekommen, dass Theresa von einer Fernsehsendung erzählt hatte. Der geheimnisvolle dritte Mann war entweder der Moderator Alex Tribec oder ein Darsteller in einem Werbespot gewesen.
Theresas Schultern sackten kraftlos herab. Es war eine kaum merkliche Bewegung, aber Dance erkannte deutlich die kinesischen Anzeichen für Enttäuschung und Kummer. Die junge Frau war sich so sicher gewesen, dass ihre Erinnerungen dazu beitragen konnten, den Mann zu finden, der ihre Familie ermordet hatte. Nun wurde ihr klar, dass ihre mutige Reise hierher, die Auseinandersetzung mit ihrer Tante... dass all das zwecklos gewesen war. Sie war zu Tode betrübt. »Es tut mir leid...« Sie hatte Tränen in den Augen.
Kathryn Dance lächelte. »Tare, keine Sorge. Das ist nicht schlimm.« Sie reichte dem Mädchen ein Taschentuch.
»Nicht schlimm? Es ist furchtbar! Ich wollte so gern helfen...«
Noch ein Lächeln. »Oh, Tare, glauben Sie mir, wir haben noch gar nicht richtig angefangen.«
In ihren Seminaren erzählte Dance die Geschichte des Großstadtmenschen, der in einem Dorf aus dem Wagen steigt, um sich bei einem Farmer nach dem Weg zu erkundigen. Der Fremde sieht zu Füßen des Mannes einen Hund sitzen und fragt: »Beißt Ihr Hund?« Der Farmer verneint, und als der Fremde das Tier streicheln will, wird er gebissen. Er zuckt zurück und sagt wütend: »Sie haben doch behauptet, Ihr Hund würde nicht beißen!« Der Farmer erwidert: »Mein Hund beißt auch nicht. Das hier ist nicht mein Hund.«
Die Kunst des Verhörs hat nicht nur mit der Analyse der Antworten, der Körpersprache und des Verhaltens der Befragten zu tun; es geht auch darum, die richtigen Fragen zu stellen.
Die Fakten der Croyton-Morde sowie jeder Moment danach waren durch die Polizei und die Medien dokumentiert worden. Daher beschloss Kathryn Dance, über einen Abschnitt zu sprechen, für den sich bisher niemand interessiert hatte: die
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