Die Menschenleserin
Herd stand. Nein!, hatte Pell erschrocken gedacht. Was macht Jimmy da?
Er ermordete sie.
Mit einem Papiertuch zog Jimmy ein Steakmesser aus der Tasche – das aus dem Haus der Familie stammte und Pells Fingerabdrücke trug, wie dieser sofort begriff. Dann hielt er der Frau von hinten den Mund zu und stach sie nieder. Sie sackte in sich zusammen.
»Was, zum Teufel, soll das?«, flüsterte Pell wütend.
Newberg drehte sich um und zögerte, aber sein Gesicht verriet, was nun kommen würde. Als er vorsprang, wich Pell bereits zur Seite aus und konnte der gefährlichen Klinge knapp entgehen. Dann riss er eine Bratpfanne vom Herd und schmetterte sie Newberg gegen den Kopf. Der junge Mann ging zu Boden. Pell nahm ein langes Küchenmesser von der Arbeitsplatte und tötete ihn.
William Croyton hatte den Lärm gehört und kam gleich darauf in die Küche geeilt, gefolgt von seinen zwei älteren Kindern, die aufschrien, als sie die Leiche ihrer Mutter sahen. Pell zog seine Pistole und zwang die hysterische Familie in die Vorratskammer.
Nach einer Weile gelang es ihm, Croyton so weit zu beruhigen, dass er nach dem Geld fragen konnte. Der Geschäftsmann sagte, es liege in einer Schreibtischschublade des Arbeitszimmers im Erdgeschoss.
Daniel Pell musterte die schluchzende, verängstigte Familie und kam sich vor, als würde er in einem Garten Unkraut betrachten oder Krähen oder Insekten. Er hatte nicht vorgehabt, an jenem Abend jemanden zu töten, aber um sein Leben unter Kontrolle behalten zu können, blieb ihm keine andere Wahl. Zwei Minuten später waren alle tot; er benutzte das Messer, damit die Nachbarn keine Schüsse hörten.
Dann wischte er so weit wie möglich alle Fingerabdrücke weg, nahm Jimmys Steakmesser und Brieftasche an sich und lief ins Arbeitszimmer, wo er zu seinem Entsetzen feststellte, dass zwar Geld im Schreibtisch lag, aber nur tausend Dollar. Eine schnelle Durchsuchung des benachbarten Elternschlafzimmers erbrachte lediglich etwas Kleingeld und Modeschmuck. Den ersten Stock, wo das kleine Mädchen im Bett lag, betrat Pell zu keinem Zeitpunkt. (Heute war er – Ironie des Schicksals – froh, dass Theresa überlebt hatte; hätte er sie damals ermordet, hätte er nie von Rebeccas Verrat erfahren.)
Und ja, er hörte die Titelmelodie von Jeopardy , als er zurück in die Küche rannte, wo er Croytons Brieftasche und den Diamantring seiner Frau einsteckte.
Dann lief er nach draußen zum Wagen und fuhr los. Und keine zwei Kilometer weiter wurde er von der Polizei angehalten.
Rebecca …
Er dachte daran zurück, wie sie sich kennengelernt hatten – an das »zufällige«, von ihr aber anscheinend geplante Zusammentreffen an der Promenade von Santa Cruz.
Pell wusste noch, wie sehr es ihm dort bei all den Karussells gefallen hatte. Vergnügungsparks faszinierten ihn, denn die Leute unterwarfen sich dort vollständig der Kontrolle eines Fremden – indem sie in den Achterbahnen und anderen halsbrecherischen Fahrgeschäften ihre Gesundheit riskierten oder sich freiwillig zu hirnlosen Laborratten degradieren ließen und wie auf Santa Cruz’ berühmtem hundert Jahre alten Looff-Karussell immer im Kreis herumeierten …
Und er sah Rebecca vor sich, wie sie ihn vor acht Jahren ganz in der Nähe des besagten Karussells zu sich gewunken hatte.
»He, möchtest du vielleicht, dass ich dein Porträt zeichne?«
»Kann sein. Wie viel?«
»Du wirst es dir leisten können. Setz dich.«
Fünf Minuten später, nachdem sie noch nicht mehr als die grundlegenden Konturen seines Gesichts skizziert hatte, ließ sie den Kohlestift sinken, sah Pell an und fragte ihn herausfordernd, ob sie sich nicht irgendwohin zurückziehen könnten. Sie gingen zum Lieferwagen. Linda Whitfield beobachtete sie mit finsterer Miene. Pell registrierte sie kaum.
Und wiederum fünf Minuten später, nachdem sie sich leidenschaftlich geküsst und begrapscht hatten, wich Rebecca zurück.
»Warte...«
Was?, dachte er. Tripper, Aids?
»Ich... muss dir etwas sagen«, keuchte sie und senkte den Blick.
»Red schon.«
»Es wird dir vielleicht nicht gefallen, und dann, okay, lassen wir es eben sein, und du bekommst dein Bild gratis. Aber ich spüre diese Verbindung zwischen uns, sogar schon nach so kurzer Zeit, und ich möchte dir sagen...«
»Na?«
»Ich habe an Sex eigentlich nur dann Spaß... wenn du mir wehtust. Ich meine, wirklich wehtust. Viele Männer mögen das nicht. Und das ist auch okay...«
Statt etwas zu erwidern, hatte er sie
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