Die Menschenleserin
Linda saßen dicht nebeneinander vor dem Fernseher und verfolgten die Nachrichten über einen weiteren Mordanschlag von Daniel Pell: auf Nagle, den Autor. Rebecca, die als Pells Komplizin bezeichnet wurde, war schwer verletzt worden. Und Pell hatte schon wieder entkommen können. Er saß in einem gestohlenen Wagen, dessen Eigentümer er ebenfalls umgebracht hatte, und war vermutlich nach Norden unterwegs.
»Ach, herrje«, flüsterte Linda.
»Rebecca hat die ganze Zeit mit ihm unter einer Decke gesteckt.« Sam starrte entsetzt den Bildschirm an. »Aber wer hat sie angeschossen? Die Polizei? Daniel?«
Linda schloss die Augen. Sam wusste nicht, ob für ein Gebet oder als erschöpfte Reaktion auf die Anstrengungen der letzten Tage. Jeder hat sein Kreuz zu tragen, musste Sam unwillkürlich denken. Aber das sprach sie in Gegenwart ihrer gläubigen Freundin nicht laut aus.
Eine der Nachrichtensprecherinnen gab nun einige Einzelheiten zu der angeschossenen Frau bekannt: Es handle sich um Rebecca Sheffield, Gründerin von Women’s Initiatives in San Diego und vor acht Jahren eine der Frauen in Pells Familie. Sheffield sei in Südkalifornien geboren worden. Als sie sechs Jahre alt war, sei ihr Vater gestorben. Die Mutter habe nicht wieder geheiratet und Rebecca allein aufgezogen.
»Sechs Jahre alt?«, murmelte Linda.
»Sie hat gelogen«, stellte Sam ungläubig fest. »Nichts von dem Zeug mit ihrem Vater ist je passiert. O Mann, hat die uns geleimt.«
»Das wird mir alles zu viel hier. Ich packe meine Sachen.«
»Linda, warte.«
»Ich will nicht mehr reden, Sam. Mir reicht’s.«
»Lass mich nur eine Sache sagen.«
»Du hast bereits jede Menge gesagt.«
»Aber ich glaube nicht, dass du mir wirklich zugehört hast.«
»Und beim nächsten Mal würde ich auch nicht zuhören.« Sie ging in ihr Zimmer.
Sam zuckte zusammen, weil das Telefon klingelte. Es war Kathryn Dance.
»Oh, wir haben es gerade im Fernsehen gesehen...«
»Hören Sie gut zu, Sam«, sagte Dance. »Ich glaube nicht, dass er nach Norden fährt. Ich fürchte, er ist zu Ihnen unterwegs.«
»Was?«
»Ich habe mit James Reynolds gesprochen. Er hat in seinen alten Akten einen Verweis auf Alison gefunden. Wie es aussieht, hat Pell ihn damals angegriffen, als er im Anschluss an die Croyton-Morde verhört wurde. Reynolds befragte ihn über den Vorfall in Redding, den Mord an Charles Pickering, und erwähnte dabei Alison, die Freundin, von der Sie erzählt haben. Pell rastete aus und wollte sich auf ihn stürzen – genau wie bei mir in Salinas -, weil er einen wunden Punkt getroffen hatte.
James glaubt, er hat Pickering ermordet, weil der Mann von Pells Berggipfel wusste. Deshalb hat er auch versucht, Alison zu finden. Weil sie ebenfalls davon weiß.«
»Aber warum sollte er uns etwas antun?«
»Weil er Ihnen von Alison erzählt hat. Sie würden vielleicht gar nicht auf den Gedanken kommen, eine Verbindung zwischen der Frau und seinem Grundbesitz herzustellen, und sich womöglich nicht einmal mehr daran erinnern. Aber dieser Ort – sein kleines Reich – ist ihm so wichtig, dass er gewillt ist, jeden mundtot zu machen, der eine Bedrohung bedeuten könnte. Also auch Sie beide.«
»Linda, komm her!«
Die Frau erschien in der Türöffnung und runzelte verärgert die Stirn.
»Ich habe die Beamten draußen über Funk verständigt«, fuhr Dance fort. »Die Kollegen werden Sie in die CBI-Zentrale bringen. Agent Kellogg und ich sind unterwegs zum Hotel. Wir werden in Ihrer Unterkunft abwarten, ob Pell tatsächlich dort auftaucht.«
Sam sah zu Linda. »Kathryn glaubt, dass er auf dem Weg zu uns sein könnte.«
»Nein!« Die Vorhänge waren zugezogen, aber die Frauen schauten dennoch automatisch zu den Fenstern. Dann fiel Sams Blick auf die Tür zu Rebeccas Zimmer.
Hatte sie daran gedacht, das Fenster dort wieder zu verriegeln, nachdem sie Rebeccas Flucht bemerkt hatte? Ja, erinnerte Sam sich, das hatte sie.
Es klopfte an der Tür. »Ladies, hier ist Deputy Larkin.«
Sam und Linda sahen einander an. Im ersten Moment rührte sich keine von beiden. Dann ging Linda langsam zu dem Guckloch und blickte hindurch. Sie nickte und öffnete die Tür. Der Beamte des MCSO trat ein. »Ich wurde gebeten, Sie zum CBI zu bringen. Lassen Sie alles einfach stehen und liegen, und kommen Sie mit.« Der andere Deputy stand draußen und hielt nach allen Richtungen Ausschau.
»Der Deputy ist hier, Kathryn«, sagte Sam ins Telefon. »Wir brechen jetzt auf.«
Sie beendeten das
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