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Die Menschenleserin

Die Menschenleserin

Titel: Die Menschenleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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nickte. Er drückte ihre Schulter. Dann atmete er mehrmals tief durch und drang zügig und mit erhobener Waffe ins Haus vor. Die Mündung schwenkte hin und her und deckte den gesamten Innenraum ab.
    Dance befand sich direkt hinter ihm, achtete wie befohlen auf die Türen – und hob die Pistole, wenn Kellogg vor ihr vorbeikam.
    Links, rechts, links, rechts …
    Gelegentlich warf sie einen schnellen Blick auf den Eingang und dachte, dass Pell mühelos die Hütte umrundet haben und nun vorn auf sie warten konnte.
    Dann rief Kellogg: »Gesichert.«
    Und Gott sei Dank lagen hier drinnen keine Leichen. Kellogg wies sie jedoch auf die frischen Blutspuren auf der Fensterbank von Rebeccas ehemaligem Zimmer hin. Das Fenster dort stand weit offen. Dance bemerkte außerdem etwas Blut auf dem Teppich.
    Sie beugte sich hinaus, entdeckte draußen auf der Erde noch mehr Blut und Fußspuren und teilte es Kellogg mit. »Ich glaube, wir sollten davon ausgehen, dass die beiden geflohen sind und er sie verfolgt«, fügte sie hinzu.
    »Ich mache mich auf die Suche«, sagte der FBI-Agent. »Sie warten am besten hier auf die Verstärkung.«
    »Nein«, sagte sie kurz entschlossen. »Das Familientreffen war meine Idee. Und ich lasse die beiden nicht sterben. Das bin ich ihnen schuldig.«
    Er zögerte. »Also gut.«
    Sie liefen zur Hintertür. Dance atmete tief ein und riss sie auf. Dann lief sie hinaus, dicht gefolgt von Kellogg, und rechnete jeden Moment mit einem lauten Knall und dem dumpfen Einschlag einer Kugel.
     
    Er hat mir wehgetan.
    Mein Daniel hat mir wehgetan.
    Warum?
    Der Schmerz in Lindas Herz war fast so schlimm wie der Schmerz in ihrer Seite. Sie hatte Daniel die Vergangenheit verziehen und war bereit, ihm auch die Gegenwart zu vergeben.
    Trotzdem hat er auf mich geschossen .
    Sie wollte sich hinlegen. Jesus sollte sie beide verhüllen, Jesus sollte sie retten. Sie flüsterte es Sam zu, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht stellte sie es sich nur vor.
    Samantha sagte nichts. Sie zerrte Linda, die große Schmerzen litt, im Laufschritt voran und folgte den kurvenreichen Pfaden dieser wunderschönen und doch gleichzeitig sehr rauen Landschaft.
    Paul, Harry, Lisa... die Namen der Pflegekinder gingen Linda durch den Kopf.
    Nein, das war letztes Jahr gewesen. Die waren nun weg. Sie hatte inzwischen andere.
    Wie waren doch gleich ihre Namen?
    Weshalb habe ich keine Familie?
    Weil Gott unser Vater einen anderen Plan für mich hat, deshalb.
    Weil Samantha mich hintergangen hat.
    Verrückte Gedanken, die wie das nahe Meer durch ihren Verstand wogten und sich an den knöchernen Felsen brachen.
    »Es tut weh.«
    »Lauf weiter«, flüsterte Sam. »Kathryn und dieser FBI-Agent werden gleich hier sein.«
    »Er hat mich angeschossen. Daniel hat mich angeschossen.«
    Ihre Sicht verschwamm. Sie würde ohnmächtig werden. Was wird die Maus dann tun? Sich meine dreiundsiebzig Kilo auf die Schulter wuchten?
    Nein, sie wird mich verraten, genau wie damals.
    Samantha, mein Judas.
    Außer dem Geräusch der nahen Brandung und dem Rauschen des Windes in den glatten Kiefern und Zypressen hörte Linda, wie Daniel Pell zu ihnen aufschloss. Das vereinzelte Knacken eines Zweiges, ein Rascheln der Blätter. Sie eilten weiter. Bis Lindas Fuß sich an der Wurzel einer verkümmerten Eiche verfing und sie zu Boden stürzte. Ihre Wunde brannte wie Feuer. Sie schrie.
    »Pssssst.«
    »Das tut so weh.«
    »Komm, steh auf, Linda.« Sams Stimme zitterte vor Angst.
    »Bitte!«
    »Ich kann nicht.«
    Mehr Schritte. Er kam immer näher.
    Doch dann fiel Linda ein, dass es auch die Polizei sein könnte. Kathryn und dieser niedliche FBI-Agent.
    Sie biss die Zähne zusammen und wandte den Kopf.
    Aber nein, es war nicht die Polizei. In fünfzehn Metern Entfernung sah sie Daniel Pell. Er hatte sie entdeckt. Er wurde langsamer, kam wieder zu Atem und ging auf sie zu.
    Linda drehte sich zu Samantha um.
    Doch die Frau war nicht mehr da.
    Sam hatte sie schon wieder im Stich gelassen, so wie vor vielen Jahren.
    Als Linda die schrecklichen Nächte in Daniel Pells Schlafzimmer erdulden musste.
    Ganz auf sich allein gestellt, damals wie heute.

...Vierundfünfzig

    »Mein Liebling, meine Linda.«
    Er kam immer näher.
    Sie verzog vor Schmerz das Gesicht. »Daniel, hör mir zu. Es ist noch nicht zu spät. Gott wird dir vergeben. Du musst dich stellen.«
    Er lachte, als habe sie irgendeinen Witz gemacht. »Gott«, wiederholte er. »Gott vergibt mir... Rebecca hat mir erzählt, dass du

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