Die Menschenleserin
schleppte Linda noch einmal sechs Meter weiter. Doch dann brach sie zusammen – am schlimmstmöglichen Ort, einer Lichtung, die sich aus allen Richtungen hundert Meter weit einsehen ließ. Jeden Augenblick konnte Pell auftauchen und sie mühelos abknallen.
Ganz in der Nähe gab es eine flache Mulde im Fels; das musste als Versteck reichen.
Linda flüsterte wieder etwas.
»Wie bitte?«, fragte Sam.
Sie beugte sich näher heran. Linda sprach zu Jesus, nicht zu ihr.
»Komm, wir müssen los.«
»Nein, nein, geh du weiter. Bitte. Ich meine es ernst... Du bist mir nichts mehr schuldig. Du hast mir gerade erst das Leben gerettet. Wir sind quitt. Ich verzeihe dir, was damals in Seaside passiert ist. Ich...«
»Nicht jetzt, Linda!«, schimpfte Sam.
Die verletzte Frau wollte sich aufrichten, sackte aber wieder zurück. »Ich kann nicht.«
»Du musst.«
»Jesus wird sich um mich kümmern. Geh schon.«
»Streng dich an!«
Linda schloss die Augen und fing an, ein Gebet zu flüstern. »Du wirst hier nicht sterben! Steh auf!«
Sie atmete tief durch, nickte und kam mit Sams Hilfe wieder auf die Beine. Gemeinsam stolperten sie vom Pfad herunter und bahnten sich einen Weg durch das Dickicht und über Wurzeln hinweg, um zu der kleinen Senke zu gelangen.
Sie befanden sich nun auf einem Felsausläufer, etwa fünfzehn Meter über der Meeresoberfläche. Das Rauschen der Brandung nahm nicht zu und wieder ab, sondern war fast konstant. Und ohrenbetäubend laut.
Die Sonne tauchte sie in einen orangefarbenen blendenden Schimmer. Sam kniff die Augen zusammen und erkannte dicht vor ihnen die kleine Vertiefung. Sie würden sich hineinlegen und mit Ästen und Blättern zudecken.
»Das machst du sehr gut. Nur noch ein paar Schritte.«
Nun ja, ungefähr zwanzig.
Aber dann waren es nur noch zehn.
Und schließlich erreichten sie ihre Zufluchtsstätte. Sie war tiefer, als Sam gedacht hatte, und würde ein erstklassiges Versteck abgeben.
Sam fing an, Linda hinunterzulassen.
Da raschelte es im Unterholz, und im nächsten Moment kam auch schon eine Gestalt aus dem Wald zum Vorschein und lief genau auf sie zu.
»Nein«, rief Sam, ließ Linda zu Boden sacken und hob einen kleinen Stein auf, eine erbärmliche Waffe.
Dann keuchte sie auf und brach in hysterisches Gelächter aus.
Kathryn Dance duckte sich neben sie und flüsterte: »Wo ist er?«
Sams Herz klopfte wie wild. »Ich weiß es nicht«, formten stumm ihre Lippen. Dann wiederholte sie die Worte lauter. »Wir haben ihn zirka fünfzig Meter in dieser Richtung gesehen. Er ist verletzt. Aber er konnte noch gehen.«
»Ist er bewaffnet?«
Sie nickte. »Mit einer Pistole. Und einem Messer.«
Dance sah sich nach allen Seiten um und blinzelte ins Sonnenlicht. Dann musterte sie prüfend Linda. »Wir legen sie da rein.« Sie wies auf die Mulde. »Drücken Sie etwas auf die Wunde.«
Gemeinsam ließen sie die Frau in die Senke hinab.
»Bitte, bleiben Sie bei uns«, flüsterte Sam.
»Keine Sorge«, sagte Dance. »Ich gehe nirgendwohin.«
...Fünfundfünfzig
Winston Kellogg befand sich irgendwo südlich von Ihnen.
Nachdem sie das Gelände des Point Lobos Inn verlassen hatten, verloren die Fuß- und Blutspuren sich unweit einer Weggabelung. Dance hatte kurzerhand die rechte Abzweigung gewählt, Kellogg die linke.
Etwas abseits des Pfades hatte sie sich leise durch das Unterholz vorangearbeitet, bis ihr am Rand einer Klippe eine Bewegung aufgefallen war. Sie hatte die Frauen erkannt und war sogleich zu ihnen gelaufen.
Nun nahm sie ihr Mobiltelefon und rief den FBI-Agenten an.
»Win, ich habe Sam und Linda gefunden.«
»Wo seid ihr?«
»Ungefähr hundert Meter hinter der Stelle, an der wir uns getrennt haben. Ich bin genau nach Westen gegangen. Wir sind fast am Rand der Klippe. Es gibt hier einen runden, etwa sechs Meter hohen Felsen.«
»Wissen die beiden, wo Pell geblieben ist?«
»Er war hier in der Nähe. Etwa fünfzig Meter links unterhalb von uns. Und er ist weiterhin bewaffnet. Mit Pistole und Messer.«
Dann hielt sie kurz inne und sah nach unten. »Win, wo sind Sie? Sind Sie am Strand?«
»Nein. Ich bin auf einem Pfad. Der Strand ist unter mir, zirka hundert Meter weit weg.«
»Okay, er ist da! Sehen Sie diese kleine Insel nach etwa fünfzehn Metern im Wasser? Sie ist voller Robben und Möwen.«
»Hab sie.«
»Davor am Strand.«
»Ich kann es von hier aus nicht sehen. Aber ich mache mich sofort auf den Weg.«
»Nein, Win. Sie haben keine Deckung. Wir brauchen
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