Die Menschenleserin
später steckte Winston Kellogg seinen Kopf zur Tür herein. Sie wies auf einen Stuhl, und er setzte sich. Er hatte sich nicht umgezogen; seine Kleidung war immer noch schmutzig und sandig. Als ihm ihre salzbefleckten Schuhe neben der Tür auffielen, zeigte er auf seine eigenen und lachte. »Haben Sie in Ihrem Schrank vielleicht auch was für mich?«
»Tut mir leid«, antwortete sie, ohne eine Miene zu verziehen.
»Die sind alle Größe sechs.«
»Zu schade, diese Lindgrünen da sehen nicht schlecht aus.«
Sie besprachen den Papierkram, der erledigt werden musste. Außerdem würde die Schusswaffenkommission den Vorfall untersuchen. Dance fragte sich, wie lange Kellogg wohl noch in der Gegend bleiben würde, und erkannte, dass es mindestens vier oder fünf Tage sein mussten, ob er sie nun um eine Verabredung bat oder nicht. Die Kommission würde so lange benötigen, um sich auf einen Termin zu einigen, die Zeugen anzuhören und den Bericht zu verfassen.
...hinterher... Was meinst du?
Kellogg streckte sich, genau wie Dance vor einigen Minuten. Sein Gesicht ließ ein sehr schwaches Signal erkennen – er war beunruhigt. Das lag natürlich an der Schießerei. Dance hatte noch nie auf einen Verdächtigen geschossen, geschweige denn jemanden getötet. Sie hatte wesentlich dazu beigetragen, gefährliche Täter aufzuspüren, von denen manche bei dem Zugriff ums Leben gekommen waren. Andere waren in der Todeszelle gelandet. Aber das war nicht das Gleiche wie selbst eine Waffe auf jemanden zu richten und dessen Leben zu beenden.
Und Kellogg hatte dies innerhalb relativ kurzer Zeit nun sogar schon zweimal getan.
»Was steht als Nächstes an?«, fragte sie.
»Ich halte in Washington ein Seminar über religiösen Fundamentalismus ab – der hat viel mit der Kultmentalität gemeinsam. Danach mache ich ein paar Tage Urlaub. Selbstverständlich nur, falls nicht wieder ein Fall dazwischenkommt.« Er setzte sich bequemer hin und schloss die Augen.
Mit seiner schmutzigen Hose, dem zerzausten Haar und dem Anflug von Bartschatten sah er wirklich attraktiv aus, dachte Dance.
»Tut mir leid«, sagte er, öffnete die Augen und lachte. »Es gehört sich nicht, im Büro einer Kollegin einzuschlafen.« Das Lächeln war echt, und was auch immer ihn zuvor bedrückt haben mochte, war nun weg.
Dann hielt Kellogg inne und warf einen Blick über die Schulter.
»Ach, eines noch. Heute muss ich Berichte schreiben, aber darf ich dich für morgen zum Abendessen einladen?«, fragte er leise. »Jetzt ist hinterher, weißt du noch?«
Sie zögerte. Du weißt doch, wie schlaue Verdächtige an ein Verhör herangehen, dachte sie. Sie überlegen sich vorher, welche Fragen gestellt werden könnten, und halten dafür Antworten bereit.
Doch obwohl sie gerade erst über diesen Punkt nachgedacht hatte, wurde sie von der Frage völlig kalt erwischt.
Und wie lautet die Antwort nun?, fragte sie sich.
»Morgen?«, wiederholte er und klang dabei schüchtern – was gar nicht zu einem Mann passen wollte, der soeben einen der schlimmsten Verbrecher in der Geschichte von Monterey County erschossen hatte.
Du musst etwas sagen, ermahnte sie sich. Ihr Blick glitt über die Fotos ihrer Kinder, ihrer Hunde, ihres verstorbenen Mannes. Sie dachte an Wes.
»Weißt du was?«, sagte sie schließlich. »Morgen passt prima.«
...Siebenundfünfzig
»Es ist vorbei«, sagte sie leise zu ihrer Mutter.
»Ich weiß. Michael hat uns beim CBI schon alles erzählt.«
Sie waren im Haus ihrer Eltern in Carmel. Die Familie hatte die sichere Zentrale verlassen dürfen.
»Hat die Rasselbande es auch schon gehört?«
Womit die Kinder gemeint waren.
»Ich hab es etwas verpackt. Ungefähr wie: Oh, eure Mom wird heute Abend nicht ganz so spät heimkommen, weil ihr lästiger Fall offenbar endlich geklärt und der Bösewicht aus dem Verkehr gezogen ist. Genaueres weiß ich auch nicht. So in etwa. Mags hat gar nicht darauf geachtet – sie übt ein neues Klavierstück für das Musiklager. Wes ist gleich zum Fernseher gelaufen, aber ich habe Stu gebeten, ihn nach draußen zu zerren und mit ihm Tischtennis zu spielen. Er scheint die Sache vergessen zu haben. Aber ich sage mit Absicht ›scheint‹.«
»Ich werde ihn im Auge behalten. Und vielen Dank.«
Sie öffnete eine Dose Bier, verteilte den Inhalt auf zwei Gläser und gab eines davon ihrer Mutter.
Edie trank einen Schluck und runzelte die Stirn. »Wann habt ihr Pell erwischt?«
Dance nannte ihr den ungefähren Zeitpunkt.
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