Die Menschenleserin
»Wieso?«
Die Mutter warf einen Blick auf die Uhr. »Ich war mir sicher, dass ich gegen vier oder halb fünf jemanden im Garten gehört habe. Erst habe ich mir nichts dabei gedacht, aber dann habe ich mich gefragt, ob Pell womöglich unsere Adresse herausgefunden hat. Um sich zu rächen oder so. Das war ganz schön unheimlich. Trotz des Streifenwagens vor der Tür.«
Pell hätte natürlich nicht gezögert, ihnen wehzutun – wahrscheinlich hatte er es sogar vorgehabt -, aber das Timing passte nicht. Zu der fraglichen Zeit war er bereits bei Morton Nagles Haus oder zumindest dorthin unterwegs gewesen.
»Das kann er eigentlich nicht gewesen sein.«
»Dann war’s wohl eine Katze. Oder der Hund der Perkins’. Die müssen sich angewöhnen, das Tier auf dem Grundstück zu behalten. Ich rede mal mit ihnen.«
Kathryn wusste, dass ihre Mutter das auch tun würde.
Dance rief ihre Kinder und scheuchte sie in den Nissan Pathfinder der Familie, in dem bereits die Hunde warteten. Dann umarmte sie ihren Vater und vereinbarte mit ihm, dass sie ihn und Edie am Sonntagabend abholen und zu der Geburtstagsfeier im Marine Club fahren würde. Dance stellte sich als Fahrerin zur Verfügung, damit ihre Eltern das Fest genießen und so viel Champagner und Pinot Noir trinken konnten, wie sie wollten. Sie dachte daran, Winston Kellogg einzuladen, beschloss aber, noch damit zu warten. Mal sehen, wie die morgige »Hinterher«-Verabredung laufen würde.
Dann fiel ihr das heutige Abendessen ein. Sie hatte absolut keine Lust zu kochen. »Könntet ihr zwei euch für Pfannkuchen in Bayside begeistern?«
»Juhu!«, rief Maggie. Und fing an, laut zu überlegen, welchen Sirup sie wollte. Wes freute sich auch, war aber zurückhaltender.
Als sie das Restaurant erreicht und in einer der Nischen Platz genommen hatten, erinnerte Kathryn ihren Sohn daran, dass es seine Aufgabe war, für den kommenden Sonntagnachmittag – vor der Geburtstagsparty – das Familienprogramm auszuwählen. »Also, was schwebt dir vor?«
»Ich weiß es noch nicht.« Wes las lange in der Speisekarte. Maggie wollte für die Hunde Pfannkuchen zum Mitnehmen. Dance erklärte, dass sie nicht hier seien, um die Wiedervereinigung mit Dylan und Patsy zu feiern, sondern dass sie einfach keine Lust gehabt habe, sich an den Herd zu stellen.
Als die großen, dampfenden Teller kamen, fragte Wes: »Ach, hast du schon von diesem Festival gehört? Den Booten?«
»Welchen Booten?«
»Opa hat uns davon erzählt. In der Bucht gibt es eine Bootsparade und in der Cannery Row ein Konzert.«
Dance erinnerte sich, irgendwas über ein John-Steinbeck-Festival gelesen zu haben. »Ist das am Sonntag? Möchtest du dorthin?«
»Es findet morgen Abend statt«, sagte Wes. »Das wird bestimmt lustig. Können wir hingehen?«
Dance musste innerlich lachen. Er hatte unmöglich von ihrer Verabredung mit Kellogg wissen können. Oder etwa doch? Sie hatte hinsichtlich der Kinder oft gewisse Eingebungen; warum sollte das nicht auch umgekehrt funktionieren?
Kathryn goss sich Sirup über die Pfannkuchen und gönnte sich sogar ein Stück Butter. Sie wollte Zeit schinden. »Morgen? Lass mich mal nachdenken.«
Ihr erster Impuls beim Anblick von Wes’ ernstem Gesicht war, Kellogg anzurufen und die Verabredung zu verschieben oder sogar ganz abzusagen.
Manchmal ist das eben einfacher …
Sie hielt Maggie davon ab, ihre Pfannkuchen in einer erschreckend großen Pfütze aus Blaubeer-und Erdbeersirup zu ertränken, sah dann Wes an und sagte spontan: »Ach, da fällt mir ein, Schatz, ich kann nicht. Ich hab schon was vor.«
»Oh.«
»Aber ich bin sicher, Opa geht gern mit euch hin.«
»Was machst du denn? Triffst du dich mit Connie? Oder Martine? Vielleicht möchten sie ja mitkommen. Wir könnten alle hingehen. Sie könnten die Zwillinge mitbringen.«
»Ja, die Zwillinge, Mom!«, rief Maggie.
Dance setzte die innere Debatte fort. Sie hörte die Worte ihrer Therapeutin: Kathryn, Sie dürfen nicht auf den Inhalt dessen achten, was er sagt. Eltern neigen zu der Ansicht, ihre Kinder würden stichhaltige Einwände gegen potenzielle Stiefeltern oder auch nur gelegentliche Verabredungen erheben. So dürfen Sie nicht denken. Was ihn stört, ist der Verrat, den Sie seiner Meinung nach am Andenken seines Vaters begehen. Das hat nichts mit der Person des jeweiligen Partners zu tun.
Sie traf eine Entscheidung. »Nein, ich werde mit dem Mann zu Abend essen, mit dem ich zusammenarbeite.«
»Agent Kellogg«, sagte
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