Die Menschenleserin
Arztpraxen und Anwaltskanzleien untergebracht waren, Architekturbüros, Computerfirmen und dergleichen mehr. Das Viertel war akribisch geplant und langweilig, die Parkplätze immer halb leer. Die Landschaft bestand aus sanften Hügeln, die dank der Regenfälle der letzten Tage grün leuchteten. Ansonsten war der Boden hier oft so braun wie Colorado während einer Trockenperiode.
Eine Inlandsmaschine von United Express flog eine scharfe Kehre, verlor an Höhe und verschwand dann hinter den Bäumen, um auf dem nahen Monterey Peninsula Airport zu landen.
Kathryn Dance und Michael O’Neil befanden sich im Konferenzraum im Erdgeschoss, genau unter Kathryns Büro. Sie standen Seite an Seite vor einer großen Karte, auf der die Straßensperren vermerkt waren – diesmal mit Reißzwecken, nicht mit insektenkundlichen Klebezetteln. Der Honda des Kurierfahrers war nirgendwo gesichtet worden, und sie hatten die Fahndung auf einen Umkreis von hundertzwanzig Kilometern ausgeweitet.
Dance warf einen Blick auf O’Neils kantiges Gesicht und sah darin eine komplizierte Mischung aus Entschlossenheit und Besorgnis. Sie kannte ihn gut. Kennengelernt hatten sie sich vor einigen Jahren, als Kathryn noch ihre Beratungsfirma hatte und Anwälten im Vorfeld einer Verhandlung bei der langwierigen Auswahl der Geschworenen half, indem sie das Verhalten und die Antworten der Leute analysierte und Empfehlungen abgab, wen man auswählen und wen man ablehnen sollte. Die Bundesstaatsanwaltschaft hatte sie damals für einen Wirtschaftsprozess engagiert, bei dem O’Neil als einer der Hauptbelastungszeugen auftrat. (Seltsamerweise hatte sie ihren verstorben Ehemann unter ganz ähnlichen Umständen getroffen: als sie in Salinas als Reporterin über ein Verfahren berichtete, in dem er Zeuge der Anklage war.)
Dance und O’Neil waren Freunde geworden und hatten über die Jahre stets Kontakt gehalten. Als Kathryn beschloss, Polizistin zu werden, und eine Stelle beim Regionalbüro des CBI erhielt, arbeitete sie häufig mit Michael zusammen. Stan Fishburne, der frühere Leiter der Dienststelle, war einer ihrer Förderer, O’Neil der andere. Er brachte ihr binnen eines halben Jahres mehr über die Kunst der Ermittlung bei, als Dance im Verlauf ihrer gesamten Ausbildung gelernt hatte. Sie ergänzten sich gut. Der stille, bedächtige O’Neil zog die traditionellen Methoden vor – Spurensicherung, verdeckte Ermittlung, Überwachung, vertrauliche Informanten -, während Dance auf das Verhör und die Befragung von Zeugen, Opfern und Verdächtigen spezialisiert war.
Sie wusste, dass sie ohne O’Neils Hilfe nicht die Beamtin geworden wäre, die sie heute war. Und auch nicht ohne seinen Humor und seine Geduld (sowie andere entscheidende Begabungen: zum Beispiel ihr ein Mittel gegen Seekrankheit zu geben, bevor sie mit seinem Boot hinausfuhren).
Ihre beruflichen Herangehensweisen und ihre Talente mochten sich unterscheiden, aber ihre Instinkte stimmten überein, und sie harmonierten hervorragend. Nun musste Dance unwillkürlich lächeln, denn obwohl O’Neil auf die Karte gestarrt hatte, schien er doch auch ein Signal von Kathryn empfangen zu haben.
»Was ist denn?«, fragte er.
»Was meinst du?«
»Dich beschäftigt etwas. Nicht nur die Tatsache, dass du hier die Verantwortung trägst.«
»Ja.« Sie dachte kurz darüber nach. Das war auch so eine Besonderheit von O’Neil: Er brachte sie oft dazu, ihre wirren Gedanken zu ordnen, bevor sie etwas sagte. »Ich habe bei Pell kein gutes Gefühl«, erklärte sie dann. »Der Mord an den beiden Aufsehern dürfte ihm kaum etwas bedeutet haben. Juan auch nicht. Und dieser Kurierfahrer ist mit Sicherheit ebenfalls tot.«
»Ich weiß... Glaubst du, Pell will töten?«
»Nein, nicht zwangsläufig. Aber er setzt rücksichtslos seine Interessen durch, wie unbedeutend die auch sein mögen. In gewisser Weise kommt mir das sogar noch beängstigender vor, und es erschwert den Versuch, sein Verhalten vorauszuahnen. Hoffen wir nur, dass ich mich irre.«
»Du irrst dich nie, Boss.« TJ trat ein und brachte einen Laptop mit. Er stellte den Computer auf den zerkratzten Konferenztisch. Hinter ihm an der Wand hing ein Plakat mit den zehn meistgesuchten Verbrechern Kaliforniens, bei denen sich die Bevölkerungsverteilung des Staates widerspiegelte: Latinos, Angloamerikaner, Asiaten und Afroamerikaner, in dieser Reihenfolge.
»Hast du die McCoy oder Pells Tante aufgespürt?«
»Noch nicht. Meine Leute sind an dem Fall dran.
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