Die Menschenleserin
Küche, aber heute Nacht würden sie sich frei im Haus bewegen dürfen; sie schlugen gewaltigen Lärm, wenn Fremde sich zu nahe heranwagten. Außerdem schaltete Kathryn die Alarmanlage an Fenstern und Türen ein.
Sie ging in Maggies Zimmer und hörte ihr zu, wie sie auf dem Keyboard ein kurzes Mozartstück spielte. Dann gab sie ihrer Tochter einen Gutenachtkuss und schaltete das Licht aus.
Wes erzählte ihr von einem neuen Jungen, der vor ein paar Monaten mit seinen Eltern hergezogen war und nun ebenfalls an dem Tennislager teilnahm. Die beiden hatten heute ein paar Trainingsmatches gespielt.
»Möchtest du ihn und seine Eltern morgen einladen? Zu Opas Geburtstag?«
»Nein, lieber nicht.«
Nach dem Tod seines Vaters war Wes auch schüchterner und in sich gekehrter geworden.
»Bist du sicher?«
»Vielleicht später einmal. Keine Ahnung... Mom?«
»Ja, liebster Sohn.«
Ein erboster Seufzer.
»Ja?«
»Warum trägst du immer noch deine Waffe?«
Kinder... ihnen entgeht nicht das Geringste.
»Ach, die habe ich ganz vergessen. Ich schließe sie gleich weg.«
»Kann ich noch ein bisschen lesen?«
»Klar. Zehn Minuten. Was liest du gerade?«
» Der Herr der Ringe .« Er sah das Buch an. Klappte es auf und dann wieder zu. »Mom?«
»Ja?«
Doch er schwieg zunächst. Dance glaubte zu wissen, was ihn beschäftigte. Falls er wollte, würde sie mit ihm reden. Aber sie hoffte, dass er nicht wollte; hinter ihr lag ein wirklich langer Tag.
»Nichts«, sagte er dann, in einem Tonfall, der ihr verriet: Es gibt etwas, aber ich möchte noch nicht darüber sprechen. Er widmete sich wieder Mittelerde.
»Wo sind die Hobbits?«, fragte Dance und wies auf das Buch.
»Noch im Auenland. Die Schwarzen Reiter sind hinter ihnen her.«
»Fünfzehn Minuten.«
»Gute Nacht, Mom.«
Dance verstaute die Waffe in der Kassette und stellte das Schloss auf einen simplen dreistelligen Code um, den sie auch im Dunkeln eingeben konnte. Sie probierte es mit geschlossenen Augen aus. Es dauerte höchstens zwei Sekunden.
Sie duschte, zog sich ihren Pyjama an und schlüpfte unter die warme Steppdecke. Die Sorgen des Tages schwebten über ihr wie der Lavendelgeruch der nahen Duftschale.
Wo bist du, Daniel Pell?, dachte sie. Wer ist deine Komplizin?
Was machst du gerade? Schläfst du? Fährst du in der Gegend herum und suchst nach jemandem oder etwas? Hast du vor, wieder zu töten?
Wie kann ich herausfinden, warum du auf der Halbinsel geblieben bist?
Kurz vor dem Einschlafen gingen ihr einige Zeilen des Verhörs durch den Kopf, das sie und Michael O’Neil sich angesehen hatten.
»Und ich selbst habe auch keine Kinder. Leider, muss ich sagen... Aber ich bin noch jung. Ich habe noch Zeit, oder?«
»Oh, sofern Sie Ihre Sachen geregelt kriegen, Daniel, spricht absolut nichts dagegen, dass Sie eine eigene Familie gründen könnten.«
Dance öffnete die Augen. Einige Minuten lang lag sie einfach da und starrte das Schattenmuster auf der Zimmerdecke an. Dann stand sie auf, zog sich Pantoffeln an und ging ins Wohnzimmer. »Legt euch wieder hin«, sagte sie zu den beiden Hunden, die ihr dann dennoch rund eine Stunde lang aufmerksam dabei zusahen, wie sie noch einmal den Karton durchstöberte, den Morton Nagle für sie zusammengestellt hatte.
... Dienstag
... Einundzwanzig
Kathryn Dance saß mit TJ in Charles Overbys Eckbüro. Morgendlicher Regen prasselte gegen die Fenster. Touristen glaubten, an der Monterey Bay sei es häufig bewölkt und regnerisch, aber in Wahrheit war es hier meistens viel zu trocken; der graue Himmel ging lediglich auf den üblichen Westküstennebel zurück. Heute jedoch goss es wie aus Eimern.
»Ich brauche etwas, Charles.«
»Und das wäre?«
»Die Bewilligung einiger Ausgaben.«
»Wofür?«
»Wir kommen nicht voran. Es gibt keine Anhaltspunkte aus Capitola, die Spurensicherung kann uns nicht weiterhelfen, Pell wurde nirgendwo gesichtet... und ich weiß vor allem nicht, weshalb er in der Gegend bleibt.«
»Und was für Ausgaben meinen Sie?«
»Ich möchte die drei Frauen, die zu seiner Familie gehört haben.«
»Sie wollen sie verhaften? Ich dachte, es läge kein Verdacht gegen sie vor.«
»Nein, ich möchte sie befragen. Sie haben mit ihm zusammengelebt; sie müssen ihn ziemlich gut kennen.«
Oh, sofern Sie Ihre Sachen geregelt kriegen, Daniel, spricht absolut nichts dagegen, dass Sie eine eigene Familie gründen könnten ...
Dieser Satz aus dem Polizeiverhör hatte sie auf den Gedanken gebracht.
Von A
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