Die Menschenleserin
selbstständig nachzudenken.
Ein Kultführer erschafft sich sein eigenes Wertesystem – das einzig und allein auf seine persönlichen Interessen und den Fortbestand des Kults ausgerichtet ist. Externe Gesetze und Moralbegriffe sind irrelevant. Er lässt seine Gefolgsleute glauben, es sei ethisch richtig, zu tun, was er ihnen aufträgt – oder nahelegt. Kultführer sind meisterlich darin geübt, ihre Botschaften sehr subtil zu übermitteln, sodass man sie nicht einmal dann konkret belangen kann, wenn ihre Gespräche abgehört werden. Aber ihre Anhänger verstehen genau, was gemeint ist.
Es werden bewusst Themen polarisiert und Drohkulissen aufgebaut, in denen es heißt: die oder wir, schwarz oder weiß. Der Kult hat immer recht, und wer nicht dem Kult angehört, hat unrecht und will die Gemeinschaft zerstören.
Andere Meinungen sind nicht gestattet. Der Kultführer nimmt absichtlich extreme, ja sogar empörende Standpunkte ein und wartet, ob jemand an ihm zweifelt – als Test der Loyalität. Von den Mitgliedern wird erwartet, dass sie ihm alles geben – sowohl ihre Zeit als auch ihr Geld.«
Dance erinnerte sich an das Telefonat aus dem Gefängnis, die neuntausendzweihundert Dollar. »Wie es aussieht, finanziert die Komplizin Pells gesamte Flucht«, sagte sie.
Kellogg nickte. »Es wird ferner vorausgesetzt, dass die Untergebenen sexuell gefügig sind. Und manchmal auch, dass sie ihm ihre Kinder überlassen.
Er übt über seine Gefolgsleute absolute Kontrolle aus. Sie müssen ihr bisheriges Leben aufgeben. Er verleiht ihnen neue Namen nach seinem Belieben. Er sucht sich möglichst verwundbare Menschen aus und nutzt ihre Unsicherheit. Er hält nach Einzelgängern Ausschau und bringt sie dazu, ihre Freunde und Verwandten zu verlassen. Die Anhänger sehen in ihm eine Quelle der Unterstützung und Geborgenheit. Er droht damit, sich von ihnen zurückzuziehen – und das ist seine stärkste Waffe.
Okay, ich könnte noch stundenlang so weitermachen, aber das gibt Ihnen einen ungefähren Eindruck von Daniel Pells Gedankenwelt.« Kellogg hob beide Hände. Er wirkte wie ein Professor. »Was bedeutet das alles für uns? Nun, es sagt zum Beispiel etwas über seine Schwachstellen aus. Es ist anstrengend, ein Kultführer zu sein. Man muss die Gefolgschaft ständig überwachen, auf etwaige Differenzen achten und diese so schnell wie möglich abstellen. Und wenn äußere Einflüsse existieren – wie draußen auf der Straße – sind die Anführer besonders aufmerksam. In ihrer eigenen Umgebung lässt die Anspannung jedoch nach. Und dadurch werden sie nachlässiger und anfälliger.
Sehen Sie sich an, was in dem Restaurant geschehen ist. Er ist die ganze Zeit wachsam geblieben, weil er in der Öffentlichkeit war. In seinem eigenen Haus hätten Sie ihn vermutlich erwischt.
Die andere Konsequenz ist diese: Seine Komplizin wird glauben, dass Pell sich moralisch im Recht befindet und aus gutem Grund getötet hat. Daraus ergeben sich zwei Folgerungen: Wir können von ihr keine Hilfe erwarten, und sie ist genauso gefährlich wie er. Ja, sie ist ein Opfer, aber das heißt nicht, dass sie nicht einen von Ihnen umbringen wird, falls sich die Gelegenheit bietet... Nun ja, das nur als generelle Einführung.«
Dance sah O’Neil an. Sie wusste, dass er das Gleiche dachte wie sie: Kelloggs Sachkenntnis war beeindruckend. Vielleicht hatte Charles Overby dieses eine Mal eine gute Entscheidung getroffen, auch wenn er nur vorgehabt hatte, sich nach allen Seiten abzusichern.
Angesichts dessen, was sie soeben über Pell gehört hatte, war sie dennoch erschrocken über die bevorstehende Aufgabe. Sie wusste aus eigener Erfahrung, wie intelligent dieser Täter war, aber falls Kelloggs Profil auch nur teilweise zutraf, stellte Pell eine überaus gefährliche Bedrohung dar.
Dance bedankte sich bei Kellogg und beendete damit die Besprechung – O’Neil machte sich auf den Weg ins Krankenhaus, um nach Juan Millar zu sehen, und TJ suchte dem FBI-Agenten ein vorläufiges Büro.
Kathryn rief Linda Whitfield an.
»Oh, Agent Dance. Gibt es schon etwas Neues?«
»Nein, leider nicht.«
»Wir verfolgen es im Radio... Ich habe gehört, Sie hätten ihn gestern beinahe erwischt.«
»Das stimmt.«
Wieder Flüstern. Erneut ein Gebet, nahm Dance an.
»Miss Whitfield?«
»Ich bin noch da.«
»Ich werde Sie jetzt um etwas bitten, und ich möchte, dass Sie darüber nachdenken, bevor Sie antworten.«
»Ist gut.«
»Wir hätten gern, dass Sie herkommen
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