Die Menschenleserin
Angeles geht immer noch einigen Spuren nach. Ich rufe wegen etwas anderem an. Ist Lincoln zu sprechen?«
»Einen Moment. Er ist hier.«
Es klickte, und Lincoln Rhymes Stimme ertönte in ihrem Telefon.
»Kathryn.«
Rhyme war eigentlich nicht der Typ für Smalltalk, aber er plauderte nun dennoch einige Minuten mit Dance – natürlich nicht über ihr Privatleben oder die Kinder. Sein Interesse galt den Fällen, an denen sie arbeitete. Lincoln Rhyme war ein Wissenschaftler mit äußerst wenig Verständnis für die »menschlichen« Aspekte des Polizeiberufs, wie er es nannte. Trotzdem hatte er während ihres gemeinsamen Falls die Kinesik verstehen und schätzen gelernt (wenngleich er betonte, dass Kathryns Arbeit schließlich auf einer wissenschaftlichen Methodik basiere und nicht auf einem – er hatte verächtlich die Nase gerümpft – Bauchgefühl). »Ich wünschte, Sie wären bei uns«, sagte er nun. »Wir untersuchen derzeit eine Reihe von Mordfällen und haben hier einen Zeugen, den Sie liebend gern in die Mangel nehmen könnten. Sie dürften sogar ein Stück Gummischlauch benutzen.«
Sie konnte sich gut vorstellen, wie er in seinem roten Elektrorollstuhl saß und einen großen Flachbildschirm musterte, der an ein Mikroskop oder einen Computer angeschlossen war. Er liebte Spuren ebenso sehr wie sie Verhöre liebte.
»Ich wünschte, es wäre möglich. Aber ich habe alle Hände voll zu tun.«
»Das kann ich mir denken. Wer macht bei Ihnen die Laborarbeit?«
»Peter Bennington.«
»Ah, na klar. Ich kenne ihn. Er hat sein Handwerk in Los Angeles gelernt. Er war auch mal in einem meiner Seminare. Ein guter Mann.«
»Ich habe im Zusammenhang mit Pell eine Frage.«
»Gern. Legen Sie los.«
»Wir haben einige Spuren, die uns zu seinem Versteck führen oder uns mehr über seine Absicht verraten könnten, die eventuell mit dem Vergiften von Nahrungsmitteln zu tun hat. Aber beides erfordert den Einsatz von ziemlich viel Personal. Ich muss wissen, ob es sinnvoll ist, die Leute auf diese Fährte anzusetzen. Wir könnten sie wirklich gut anderweitig gebrauchen.«
»Um was für Spuren handelt es sich?«
»Ich hoffe, ich habe mir alles richtig notiert.« Wieder wanderte ihr Blick zwischen der Straße und dem Block hin und her. »Carboxylsäure, Äthanol, Apfelsäure, Aminosäuren und Glukose.«
»Eine Minute.«
Sie hörte ihn mit Amelia Sachs reden, die anscheinend eine von Rhymes eigenen Datenbanken zu Rate zog. Alles war deutlich zu verstehen; im Gegensatz zu den meisten anderen Leuten war der Kriminalist nicht in der Lage, den Hörer zuzuhalten, wenn er mit jemandem im Zimmer sprach.
»Okay, Moment noch. Ich gehe hier gerade eine Liste durch...«
»Sie können mich zurückrufen«, sagte Dance. Sie hatte nicht damit gerechnet, sofort eine Antwort zu erhalten.
»Nein... nur einen Moment Geduld... Wo wurde die Substanz gefunden?«
»Im Fußraum von Pells Wagen.«
»Hm. Im Wagen.« Es herrschte kurz Stille, dann murmelte Rhyme etwas vor sich hin. Schließlich fragte er: »Ist es möglich, dass Pell kurz zuvor in einem Restaurant gegessen hat? Ein Fischrestaurant oder ein britischer Pub?«
Sie lachte laut auf. »Ein Fischrestaurant, ja. Woher, um alles in der Welt, haben Sie das gewusst?«
»Die Säure ist Essig – Malzessig, um genau zu sein, denn die Aminosäuren und die Glukose weisen auf einen Karamellfarbstoff hin. Meine Datenbank verrät mir, dass dieser Essig häufig in der britischen Küche sowie bei Fisch und Meeresfrüchten verwendet wird. Erinnern Sie sich noch an Thom? Er hat mir bei diesem Eintrag geholfen.«
Rhymes Betreuer war gleichzeitig ein hervorragender Koch. Letzten Dezember hatte er ihr das beste Bœuf Bourguignon vorgesetzt, das sie je gegessen hatte.
»Tut mir leid, dass Sie ihn damit nicht erwischen werden«, sagte der Kriminalist.
»Nein, nein, das ist prima, Lincoln. Ich kann unsere Leute nun aus einigen Suchgebieten abziehen und andernorts einsetzen, wo sie nützlicher sind.«
»Rufen Sie an, wann immer Sie wollen, jederzeit. Bei diesem Täter würde ich gern mitmischen.«
Sie verabschiedeten sich.
Dance rief O’Neil an und teilte ihm mit, dass die Säure höchstwahrscheinlich aus dem Jack’s stammte und ihnen in Bezug auf Pell nicht weiterhelfen würde. Daher sei es vermutlich besser, bei der Suche nach dem Killer dem ursprünglich vorgesehenen Plan zu folgen.
Sie unterbrach die Verbindung und setzte die Fahrt auf der vertrauten Strecke fort. Der achtspurige Highway 101
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