Die Menschenleserin
wollen wissen, wie ich ticke? Die Antwort darauf ist Ihnen doch sicherlich bekannt, Doktor. Die ist bei allen gleich: natürlich die Familie. Daddy hat mich verhauen, Daddy hat mich nicht beachtet, Mommy hat mich nicht gestillt, Onkel Joe hat wer weiß was getan. Ob Charakter oder Erziehung, für beides kann man die Familie verantwortlich machen. Aber falls man zu viel darüber nachdenkt, sind, ehe man sich’s versieht, jeder einzelne Angehörige und Vorfahr, die man je hatte, bei einem im Zimmer, und man ist wie gelähmt. Nein, nein, um überleben zu können, muss man sie alle loslassen und sich daran erinnern, dass man ist, wer man ist, und dass sich das nie ändern wird. Psychologe: Wer also sind Sie, Daniel?
Pell (lacht): Ich? Oh, ich bin jemand, der an den Strippen Ihrer Seele zieht und Sie Dinge tun lässt, von denen Sie dachten, dass Sie niemals dazu fähig wären. Ich spiele meine Flöte und führe Sie an Orte, vor denen Sie sich fürchten. Und glauben Sie mir, Doktor, Sie wären erstaunt, wie viele Leute sich wünschen, von einem Puppenspieler oder Rattenfänger gelenkt zu werden.«
»Ich muss nach Hause«, sagte Dance, nachdem Nagle gegangen war. Ihre Mutter und die Kinder erwarteten sie dringend bei den letzten Vorbereitungen für die Party ihres Vaters.
Kellogg strich sich das Haar aus der Stirn. Es fiel zurück. Er versuchte es erneut. Sie beobachtete die Geste und registrierte etwas, das ihr bisher nicht aufgefallen war – ein Verband, der unter seinem Hemdkragen hervorragte.
»Sind Sie verletzt?«
Er zuckte die Achseln. »Ich hab etwas abbekommen. Bei einer Festnahme neulich in Chicago.«
Seine Körpersprache verriet ihr, dass er nicht darüber reden wollte, und sie hakte nicht nach. Aber dann sagte er: »Der Verdächtige hat es nicht überlebt.« In einem gewissen Tonfall und mit einem gewissen Blick. So wie Dance anderen Leuten mitteilte, dass sie verwitwet war.
»Das tut mir leid. Wie kommen Sie damit klar?«
»Gut.« Dann fügte er hinzu: »Okay, nicht gut. Aber ich kriege es schon irgendwie in den Griff. Manchmal ist das alles, was man tun kann.«
»He, haben Sie heute Abend schon was vor?«, fragte sie spontan.
»Meinem Vorgesetzten Bericht erstatten, dann ein Bad im Hotel, ein Scotch, ein Burger und Schlaf. Nun ja, zugegeben, zwei Scotchs.«
»Ich habe eine Frage.«
Er hob eine Augenbraue.
»Mögen Sie Geburtstagskuchen?«
Er überlegte nur kurz. »Der gehört zu meinen bevorzugten Nahrungsmitteln.«
... Sechsundzwanzig
»Mom, sieh mal. Wir haben es deck-oriert! D-E-C-K .«
Dance küsste ihre Tochter. »Das ist witzig, Mags.«
Sie wusste, dass das Mädchen vor Vorfreude auf dieses Wortspiel fast geplatzt wäre.
Das Deck sah hübsch aus. Die Kinder hatten den ganzen Nachmittag daran gearbeitet, es für die Party vorzubereiten. Banner, Lampions und Kerzen, wohin man sah. (Das hatten sie von ihrer Mutter gelernt; wenn Gäste kamen, gab es vielleicht keine Gourmetspeisen, aber dafür ein schönes Ambiente.)
»Wann darf Opa seine Geschenke auspacken?« Sowohl Wes als auch Maggie hatten etwas von ihrem Taschengeld gespart und Stuart Dance neue Ausrüstungsgegenstände gekauft – hohe Wasserstiefel und einen Käscher. Dance wusste, dass ihr Vater sich über jede Aufmerksamkeit seiner Enkelkinder gefreut hätte, doch diese speziellen Geschenke besaßen für ihn sogar großen Nutzen.
»Geschenke gibt es nach dem Kuchen«, verkündete Edie Dance.
»Und den gibt es nach dem Abendessen.«
»Hallo, Mom.« Dance und ihre Mutter nahmen sich nicht bei jeder Gelegenheit in den Arm, aber diesmal drückte Edie sie fest an sich, um ihr ins Ohr zu flüstern, dass sie über Juan Millar sprechen wollte.
Die Frauen gingen ins Wohnzimmer.
Dance sah auf den ersten Blick, dass ihre Mutter beunruhigt war.
»Was ist denn?«
»Er ist noch immer bei uns. Und er war einige Male bei Bewusstsein.« Sie sah sich um, vermutlich um sich zu vergewissern, dass die Kinder nicht in der Nähe waren. »Immer nur für ein paar Sekunden. Ihr könntet ihn auf keinen Fall befragen. Aber...«
»Was denn, Mom?«
Sie sprach noch leiser. »Ich stand neben ihm. Niemand sonst war in Hörweite. Als ich nach unten sah, waren seine Augen offen. Ich meine, das eine, das nicht bandagiert ist. Seine Lippen haben sich bewegt, also habe ich mich hinuntergebeugt. Er hat gesagt...« Edie schaute sich um. »Er hat gesagt: ›Tötet mich.‹ Zwei Mal. Dann hat er die Augen geschlossen.«
»Hat er so starke
Weitere Kostenlose Bücher