Die merkwuerdigen Faelle des Dr. Irabu
Injektionstisch.
»He, ich will wissen, was Sie machen!«
»Ist nur’ne Traubenzuckerinjektion, keine Sorge.«
»Wofür brauche ich denn so was?«
»Ist schon gut, keine Aufregung«, antwortete Irabu und betupfte sanft eine Stelle auf dem Arm mit Desinfektionsmittel, als ob er ein Spielzeug betastete. Selbst wenn er sich hätte wehren wollen, sein Arm war festgebunden. Träumte er? Schon mehr als zehn Jahre hatte er keine Befehle mehr entgegengenommen, geschweige denn sich seiner Freiheit berauben lassen …
Die Nadel stach in seine Haut. »AU!«, schrie Mitsuo auf und
war sofort peinlich berührt über seine Schwäche. Unvermittelt fühlte er sich zurückversetzt in seine Grundschulzeit, wo er in der ersten Klasse von der damaligen Besatzungsmacht Amerika zur Entlausung mit DDT besprüht wurde. Sein Blick fiel auf den Ausschnitt der Krankenschwester, von der ein süßlicher Duft zu ihm aufstieg. Als ihre Blicke sich trafen, zog sie eine spöttische Miene und tippte ihm mit dem Zeigefinger gegen die Stirn, damit er den Blick wieder hochnähme.
Er wusste nicht, wie ihm geschah. Selbst eine betrunkene Bardame in Ginza hätte sich das nicht erlaubt. Nach der Spritze bekam er Kaffee serviert. Irabu lehnte sich in den Sessel zurück und nippte an seiner Tasse. Mitsuo selbst saß auf einem primitiven Hocker und fühlte Zorn in sich hochsteigen. Warum wurde er hier nicht als Präsident der Dainippon Shinbun und Besitzer der Tokyo Great Powers behandelt, wie es ihm eigentlich zustand?
»Wenn Sie sagen, Sie können nicht schlafen, meinen Sie jeden Abend?«
»Nein, das ist je nach Zeit und Situation verschieden«, antwortete Mitsuo verdrießlich.
»Zum Beispiel, wenn Ihre Mannschaft verliert?«
»Na, na, wollen Sie mich auf den Arm nehmen? So empfindlich bin ich nicht.«
»Gut, woran liegt’s dann?«
Mitsuo hüstelte etwas. »Bevor Sie weiterfragen: Gewöhnen Sie sich mir gegenüber einen anderen Ton an. Ich bin ein Mann mit einer gesellschaftlichen Stellung.«
»Jetzt ist er schon wieder so förmlich!«, antwortete Irabu, ohne im Geringsten aus der Fassung zu geraten, und klopfte ihm vertraulich auf die Schulter.
»Sie ungehobelter Mensch. Wenn diese Welt nicht völlig verrückt geworden ist, dann werde ich Sie eigenhändig einen Kopf
kürzer machen!« Außer sich vor Zorn wischte Mitsuo Irabus Hand weg.
»Herr Tanabe, Sie sind ganz rot im Gesicht. Achten Sie auf Ihren Blutdruck, gell!«
»Was soll denn dieses gell ? Sie sind doch derjenige, der ihn nach oben treibt!« Mitsuos Lippen bebten zornig.
»Sie sind ja ein richtiger Choleriker! Wenn Sie in Ruhe schlafen wollen, müssen Sie sich erst einmal abregen.«
Mitsuo röchelte. ER bekam hier Vorhaltungen gemacht? Von diesem Lausejungen …«
»Es ist bei älteren Menschen nicht unüblich, dass sie aus Angst vor dem Tod nicht einschlafen können.«
Das versetzte ihm einen Schock, und unwillkürlich begannen seine Wangen zu zucken.
»Reden Sie doch keinen Unsinn! Ich weiß sehr wohl, dass ich nicht ewig lebe«, erwiderte er, doch der Schweiß brach ihm aus allen Poren.
»Mir jammerte vor kurzem ein achtzigjähriger Patient vor, dass ihm allein der Ausdruck ›ewige Ruhe‹ in der Zeitung Angst vorm Schlafen mache.«
»Setzen Sie mich nicht auf eine Stufe mit einem alten Knacker, der den ganzen Tag auf der faulen Haut liegt. Ich habe jeden Tag Arbeit bis über beide Ohren und keine Zeit für solche Kinkerlitzchen«, erwiderte Mitsuo, und schon begann der Schweiß auf seiner Haut, kalt zu werden. Tatsächlich jagten auch ihm die Todesanzeigen in der Zeitung einen Schauer über den Rücken. Jedes Mal wenn er darin lesen musste, dass jemand verstorben war, der jünger war als er selbst.
»Hmm, ja, Leute wie Sie sind aus anderem Holz geschnitzt!«, meinte Irabu so unbekümmert wie eine Kuh, die muht.
»Wie auch immer: Ich habe viel zu tun. Jetzt geben Sie mir schon die Pillen! Ich kenne Ihren Vater sehr gut.«
»Mein Vater wurde diese Woche zum Golf auf Hawaii eingeladen.«
»Jetzt machen Sie schon!«, wurde Mitsuo lauter.
»Und wieder bläst er sich auf«, brummelte Irabu, während er etwas in die Patientenakte eintrug. »Also gut, ich verschreibe Ihnen Schlafmittel und, um sicherzugehen, Antidepressiva. Und von nun an schauen Sie öfter bei mir vorbei.«
»Unsinn. Glauben Sie, ich habe Zeit für Krankenhausbesuche?«
»Es wäre mir sehr daran gelegen, wenn Sie das einrichten könnten. Ich muss nämlich mehr Punkte bei der Krankenkasse machen…«,
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