Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
ein Geheimgang abzweigen, aber ehrlich gesagt, glaube ich das nicht. Ich denke, es ist das Wasser selbst, das Sie anzieht.« Sie machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: »Sie sind eine Meerjungfrau, nicht wahr?«
Falls Unke überrascht war, so zeigte sie es nicht. Merle verstand sehr wohl, was sie da behauptete; und auch, wie unsinnig es im Grunde war. Unke besaß Beine, menschliche, wohlgeformte Beine, ganz im Gegensatz zu allen bekannten Meerjungfrauen, deren Hüften in einen breiten Fischschwanz übergingen.
Unke griff sich mit beiden Händen an den Hinterkopf und nahm behutsam die Maske herunter, die Tag und Nacht die untere Hälfte ihres Gesichts bedeckte.
»Du hast keine Angst vor mir, oder?«, fragte sie mit ihrem breiten Maul, dessen Winkel einen Fingerbreit vor den Ohren endeten. Sie besaß keine Lippen, doch beim Sprechen zogen sich Hautfalten zurück und entblößten ein Gebiss aus mehreren Reihen kleiner, spitzer Zähne.
»Nein«, erwiderte Merle, und es war die Wahrheit.
»Das ist gut.«
»Verraten Sie es mir?«
»Was möchtest du wissen?«
»Warum Sie nicht diesen Weg hier nehmen, wenn Sie sich nachts mit den anderen Meerjungfrauen treffen. Weshalb gehen Sie das Risiko ein, dass man Sie beobachten kann, wenn Sie in den Brunnen steigen?«
Unkes Augen verengten sich, doch was bei einem Menschen wie eine unausgesprochene Drohung gewirkt hätte, war bei ihr nur eine Äußerung von Abscheu. »Weil das Wasser verseucht ist. Es ist das Gleiche in allen Kanälen der Stadt. Es ist giftig, es tötet uns. Deshalb kommen so wenige von uns freiwillig nach Venedig. Das Wasser der Kanäle bringt uns um, schleichend, aber mit absoluter Gewissheit.«
»Die Meerjungfrauen vor den Booten -«
»Werden sterben. Jede von uns, die ihr Menschen gefangen nehmt und einsperrt oder für eure Wettkämpfe missbraucht, wird sterben. Das Gift im Wasser zerfrisst erst die Haut und dann den Verstand. Nicht einmal die Fließende Königin kann uns davor bewahren.«
Merle schwieg erschüttert. All die Menschen, die sich zum Spaß Meerjungfrauen wie Haustiere hielten, waren Mörder. Manche mochten gar wissen, was die Gefangenschaft in den Kanälen den Meerweibern antat.
Beschämt schaute sie Unke in die Augen. Sie hatte Mühe, überhaupt einen Ton herauszubringen. »Ich habe noch nie eine Meerjungfrau gefangen.«
Unke lächelte und zeigte erneut ihre nadelspitzen Zähne. »Das weiß ich. Ich kann es fühlen. Du bist berührt von der Fließenden Königin.«
»Ich?«
»Hat man dich nicht aus dem Wasser geholt, als du ein Neugeborenes warst?«
»Sie haben mich und Junipa belauscht, am ersten Abend oben im Zimmer.« Bei jedem anderen wäre sie entrüstet gewesen, doch in Unkes Fall maß sie dem keine Bedeutung mehr bei.
»Ich habe gelauscht«, gestand die Meerjungfrau. »Und weil ich dein Geheimnis kenne, will ich dir meines verraten. Das ist nur gerecht. Und so, wie ich über deines mit niemandem reden werde, wirst du über das meine Stillschweigen bewahren.«
Merle nickte. »Wie haben Sie das vorhin gemeint - dass mich die Fließende Königin berührt hat?«
»Du bist auf den Kanälen ausgesetzt worden. Das passiert vielen Kindern. Aber die wenigsten überleben. Die meisten ertrinken. Du aber wurdest gefunden. Die Strömung hat dich getragen. Das kann nur bedeuten, dass sich die Fließende Königin deiner angenommen hat.«
In Merles Ohren klang es, als wäre Unke dabei gewesen, so groß war die Überzeugung, die in ihren Worten mitschwang. Es war nahe liegend, dass die Meerjungfrauen die Fließende Königin als Göttin verehrten. Merle sponn den Gedanken weiter und bekam eine Gänsehaut: Was, wenn die Königin gar nicht die Menschen der Lagune beschützte? Immerhin waren die Meerfrauen Geschöpfe des Wassers, und wenn man einigen Theorien Glauben schenkte, dann war die Königin das Wasser. Eine unbegreifliche Macht des Meeres.
»Was ist die Fließende Königin?« Sie hatte keine echte Hoffnung, dass Unke eine Antwort auf diese Frage wusste.
»Falls es je bekannt war, so ist es längst vergessen«, entgegnete die Meerjungfrau leise. »So wie du und ich und die Königin selbst einmal vergessen sein werden.«
»Aber die Fließende Königin wird von allen verehrt. Jeder in Venedig liebt sie. Sie hat uns alle gerettet. Keiner kann das jemals vergessen.«
Unke beließ es bei einem stummen Schulterzucken, doch Merle bemerkte sehr wohl, dass sie anderer Meinung war. Die Meerjungfrau deutete auf eine schlanke Gondel,
Weitere Kostenlose Bücher