Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
nach vorn!«
Die Stände der Händler waren in zwei Reihen angeordnet, die vom Wasser aus als Ladenstraße in Richtung Markuskirche verliefen. Serafins Weg kreuzte sie in der Mitte des Platzes. Einige der Männer und Frauen, die dort im Licht der Fackeln und Gaslaternen ihre Läden aufschlugen, erkannte er jetzt deutlicher. Bis zum Sonnenaufgang mochte noch mehr als eine Stunde vergehen; dann aber wollte man für die Käufer gerüstet sein.
Serafin beobachtete, dass immer weniger Kaufleute mit ihren Ständen beschäftigt waren. Einige hatten sich zusammengerottet, gestikulierten wild in die Luft und rümpften die Nasen. »Schwefel«, hörte er immer wieder. »Warum Schwefel? Und warum hier?«
Er musste sich getäuscht haben. Der Gestank kam nicht aus den Kerkern.
Sie passierten jetzt die zweite Ladenreihe und ließen die Stände hinter sich. Es waren noch etwa hundert Meter bis zu einem schmalen Seiteneingang des Dogenpalastes. Rechts und links davon hielten weitere Gardisten Wache. Unter ihnen befand sich ein Hauptmann der Garde, das Zeichen des fliegenden Löwen schmückte seine schwarze Uniform. Mit gefurchter Stirn beobachtete er, wie Serafin und seine Begleiter näher kamen.
Die Gespräche der Händler in Serafins Rücken wurden lauter, erregter, konfuser. Serafin war, als läge mit einem Mal ein Zittern in der Luft. Seine Haut begann zu prickeln.
Jemand schrie. Ein einzelner, spitzer Schrei, nicht einmal besonders laut. Der Gardehauptmann am Tor wandte seinen Blick von Serafin auf das Zentrum des Platzes. Der Schwefelgeruch wurde jetzt so stark, dass er Serafin auf den Magen schlug. Aus dem Augenwinkel sah er, dass seine Bewacher sich die Nasen zuhielten; sie empfanden den Gestank weit stärker als er. Der Knebel über Mund und Nase bewahrte ihn vor Schlimmerem.
Einer der Männer blieb stehen und übergab sich. Dann ein zweiter.
»Warte!«, kommandierte einer der Soldaten. Serafin drehte sich nach kurzem Zögern um.
Zwei seiner vier Bewacher krümmten sich und spien hustend Erbrochenes auf ihre blank geputzten Stiefel. Ein dritter hielt sich die Hand vor den Mund. Nur der vierte, jener, der ihm befohlen hatte, stehen zu bleiben, hielt noch die Waffe auf ihn gerichtet.
Jenseits der Gardisten sah Serafin die Pulks der Händler auseinander spritzen. Einige von ihnen taumelten wie blind umher, stapften durch Pfützen von Erbrochenem. Serafin blickte zurück zur Seitentür des Dogenpalastes. Auch dort kämpften die Wächter mit ihrer Übelkeit. Nur der Hauptmann stand noch aufrecht; er hielt sich mit einer Hand die Nase zu. Abwechselnd atmete er durch den Mund und schrie Befehle, denen niemand mehr gehorchte.
Im Stillen dankte Serafin seinen Bewachern für den Knebel. Auch ihm war schlecht, aber der Stoff hielt die übelsten Schwefeldünste von ihm fern.
Während er noch überlegte, ob dies die Gelegenheit war, auf die er gewartet hatte, ertönte plötzlich ein tiefes Grollen. Der Boden vibrierte. Das Grollen wurde lauter und steigerte sich zu einem Donnern.
Einer der Stände in der Mitte des Platzes fing Feuer. Panische Händler veranstalteten einen irren Veitstanz um die Flammen. Ein zweiter Bretterverschlag loderte auf, dann ein dritter. In Windeseile rasten die Flammen die Ladenstraße entlang, auch dort, wo die einzelnen Stände zu weit auseinander standen, als dass das Feuer von selbst hätte übergreifen können. Kein Wind wehte, der die Flammen hätte anfachen können, trotzdem breiteten sie sich weiter aus. Die Luft war still bis auf das unmerkliche Beben, das die Härchen auf Serafins Unterarmen aufstellte.
Der Gardehauptmann blickte zum aufgewühlten Wasser hinüber, hielt Ausschau nach feindlichen Kanonenbooten oder Feuerkatapulten. Nichts, keine Angreifer. Serafin folgte seinem Blick zum Himmel. Auch dort nur Dunkelheit, nirgends Sonnenbarken des Imperiums.
Die beiden Ladenreihen brannten jetzt lichterloh, ein flackerndes Fanal, das die Fassaden des Palastes und der Markuskirche mit Feuerschein überzog. Die schreienden Händler machten gar nicht erst den Versuch, ihr Hab und Gut zu löschen. In ihrer Panik wichen sie nach rechts und links zurück, zu den Rändern des Platzes.
Serafin holte tief Luft - Schwefel, immer noch Schwefel! -, dann rannte er los. Er kam ganze zehn Schritte weit, ehe einer seiner Bewacher sein Verschwinden bemerkte. Es war jener, der sich als Erster übergeben hatte; er wischte sich gerade mit einer Hand über die Lippen. Mit der anderen hielt er das Gewehr und
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