Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
helfen wird, ist nämlich nicht in den Kerkern gefangen, sondern im Campanile.«
»Dem höchsten Turm der Stadt!«
»Allerdings.«
Der Campanile stand auf der Piazza San Marco und überragte ganz Venedig. Merle verstand noch immer nicht, worauf die Königin hinauswollte.
»Aber dort drinnen ist kein Gefängnis!«
»Keines für gewöhnliche Verbrecher. Erinnerst du dich an die Legenden?«
»Wie ist der Name deines Freundes?« »Vermithrax. Aber du kennst ihn eher als den -«
»Der Uralte Verräter!«
» Eben der.«
»Aber das ist nur eine Geschichte! Ein Ammenmärchen. Vermithrax hat nie wirklich gelebt.«
»Ich denke, er wird da anderer Ansicht sein.«
Merle schloss für einige Sekunden die Augen. Sie musste sich konzentrieren, durfte jetzt keinen Fehler machen. Ihr Leben hing davon ab.
Vermithrax, der Uralte Verräter! Er war eine Gestalt der Sagen und Mythen, seinen Namen benutzte man als Fluch. Aber ein lebendes, atmendes Wesen - niemals! Magie und Meerhexen, all das war Wirklichkeit, ein Teil ihres Alltags. Doch Vermithrax? Das war, als hätte ihr jemand erzählt, er habe mit dem lieben Gott zu Mittag gegessen.
Oder die Fließende Königin getrunken.
»Gut«, seufzte Merle in Gedanken, »du behauptest also, der Uralte Verräter wird im Campanile auf der Piazza San Marco gefangen gehalten, richtig?«
»Mein Wort darauf.«
»Und wir werden einfach zu ihm gehen, ihn befreien und… was dann?«
»Das wirst du sehen, wenn wir bei ihm sind. Er schuldet mir noch einen Gefallen.«
»Vermithrax schuldet dir etwas?«
»Vor langer Zeit habe ich ihm geholfen.«
»Das hat ihn offenbar weit gebracht - geradewegs ins Gefängnis!«
»Dein Spott, meine Liebe, ist überflüssig.«
Merle schüttelte resigniert den Kopf. Eine der Meerjungfrauen schaute herüber, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Merle schenkte ihr ein knappes Lächeln. Die Frau erwiderte es mit ihrem Haifischmaul und blickte wieder nach vorn.
»Wenn er dort seit all den Jahren festgehalten wird, wie kommt es dann, dass niemand davon weiß?«
»Oh, alle wissen es.«
»Aber sie halten es für eine Legende!«
»Weil sie es dafür halten wollen. Vielleicht würden sich manche Märchen und Mythen als wahr herausstellen, wenn nur jemand den Mut aufbrächte, in einem Brunnen nach einer goldenen Kugel zu suchen oder die Dornenhecke vor einem Schloss zu zerschneiden.«
Merle überlegte. »Er ist wirklich dort oben?«
»Das ist er.«
»Wie willst du ihn befreien? Er wird sicher streng bewacht.«
»Mit ein wenig Glück«, erwiderte die Königin.
Merle wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als sie spürte, wie die Meerjungfrauen der Oberfläche entgegenstiegen. Über sich konnte Merle die Kiele von Gondeln erkennen, die sanft auf den Wellen schaukelten; sie lagen in Reih und Glied nebeneinander. Merle wusste, wo sie waren. Dies war die Gondelanlegestelle an der Piazza San Marco.
Das Wasser rund um die Gondeln hatte einen rotgoldenen Glanz angenommen. Der Morgenhimmel, dachte Merle erleichtert. Sonnenaufgang. Ihre Stimmung hob sich ein bisschen, auch wenn das Licht ihren Weg zum Campanile erschweren würde.
»Zu früh«, widersprach die Fließende Königin. Sie klang besorgt. »Zu früh für den Sonnenaufgang.«
»Aber das Licht!« »Es scheint von Westen herüber. Die Sonne geht im Osten auf.«
»Was ist es dann?«
Die Fließende Königin schwieg einen Moment, während die Meerjungfrauen unschlüssig einige Meter unter der Oberfläche verharrten.
»Feuer«, sagte sie dann. »Die Piazza San Marco brennt!«
Bote des Feuers
Drei Meter über dem Boden öffnete der Löwe seine Pranken und ließ ihn fallen. In der Luft krümmte Serafin den Rücken und kam sicher mit Händen und Füßen auf, dank tausend ähnlicher Sprünge aus hohen Fenstern, von Dachbalustraden und Terrassen. Er mochte kein Meisterdieb der Gilde mehr sein, aber seine Talente waren ihm nicht abhanden gekommen.
Wieselflink richtete er sich auf, leicht vornübergebeugt, bereit zum Kampf, als zwei Gardisten ihre Gewehrläufe auf ihn richteten und damit jeden Gedanken an Gegenwehr zunichte machten. Serafin stieß scharf die Luft aus, dann streckte er sich und entspannte seine Muskeln. Er war ein Gefangener; es mochte klüger sein, sich nicht allzu widerspenstig zu zeigen. Später, wenn man ihn dem Kerkermeister und seinen Folterknechten vorführte, würde er seine Kräfte nötig haben. Kein Grund, sich an ein paar Gardisten aufzureiben.
Ergeben streckte er
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