Die Merle-Trilogie 01 - Die Fließende Königin
Mensch kann diese beiden Wörter im selben Satz benutzen. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum ich noch Hoffnung für euch habe. Aber willst du nicht hören, wie die Geschichte der Löwen weiterging? Wir sind gleich in der Spitze des Turmes. Bis dahin solltest du wissen, welche Rolle Vermithrax in alldem spielte.«
»Erzähl weiter.«
»Die Löwen erholten sich nur langsam, und es gab Kämpfe unter ihnen, wie zu verfahren sei. Fest stand, sie waren Gefangene auf ihrer eigenen Insel. Sie waren schwach, der Schmerz in ihren Schultern drohte sie umzubringen, und sie waren verzweifelt. Die Venezianer unterbreiteten ihnen das Angebot, ihnen weiterhin Futter zukommen zu lassen, solange die Löwen bereit wären, ihnen als Sklaven zu dienen. Nach langer Debatte ließ sich das Löwenvolk darauf ein. Einige von ihnen wurden auf eine zweite Insel verschifft, wo Wissenschaftler und Alchimisten damit begannen, Experimente an ihnen vorzunehmen. Neue Generationen von Steinlöwen wurden
herangezüchtet, so lange, bis sie zu dem wurden, was sie heute sind - nicht Tier, aber auch nicht Ebenbild ihrer edlen Vorväter. Eine Rasse von Löwen, die ohne Flügel geboren wird und das Singen verlernt hat.«
»Und was ist mit Vermithrax?«, fragte Merle. »Oder den Löwen, die auch heute noch fliegen können?«
»Als die Venezianer ihren Verrat begingen, befand sich ein kleiner Trupp von Löwen außerhalb der Lagune, um für die Menschen die Länder des Ostens auszuspionieren. Bei ihrer Heimkehr erfuhren sie, was geschehen war, und sie brüllten vor Zorn. Doch trotz all ihrer Wut waren sie zu wenige, um den Venezianern mehr als ein Scharmützel zu liefern. So beschlossen sie fortzugehen, statt den sicheren Untergang im Kampf mit der Übermacht zu wählen. Sie waren nicht mehr als ein Dutzend, aber sie flogen den ganzen Weg übers Mittelmeer nach Süden, und weiter noch bis ins Herz Afrikas. Dort lebten sie eine Weile unter den Löwen der Savannen, ehe sie erkannten, dass diese sie nur aus Furcht als ihresgleichen akzeptierten. Da zog das Volk der Steinlöwen weiter, hoch in die Berge der heißen Länder, und dort blieben sie für lange Zeit. Das Unrecht der Venezianer wurde zur Geschichte, dann zum Mythos. Doch schließlich, vor etwa zweihundert Jahren, war da ein junger Löwe namens Vermithrax. Er schenkte den alten Legenden Glauben, und sein Herz war schwer vor Trauer über das Schicksal seines Volkes. Er fasste den Entschluss, hierher zurückzukehren, um den Bürgern Venedigs ihre Verbrechen heimzuzahlen. Doch nur wenige wollten sich ihm anschließen, denn mittlerweile waren die Berge den Nachfahren der Flüchtlinge zur Heimat geworden, und kaum einer verspürte Freude bei dem Gedanken, in die ungewisse Fremde aufzubrechen.
So kam es, dass Vermithrax nur mit einer Hand voll Gefährten den Weg nach Venedig auf sich nahm. Er glaubte fest daran, dass die unterjochten Löwen der Stadt sich auf seine Seite schlagen und ihren Peinigern in den Rücken fallen würden. Doch Vermithrax beging einen schweren Fehler: Er unterschätzte die Macht der Zeit.«
»Die Macht der Zeit?«, fragte Merle verwundert.
»Ja, Merle. Die Zeit hatte die Wunden längst geheilt, und, schlimmer noch, sie hatte das Volk der Löwen gefügig gemacht. Der alte Drang nach Bequemlichkeit hatte sich der stummen, flügellosen Rasse der Löwen bemächtigt. Sie waren zufrieden mit ihrem Dasein als Diener der Venezianer. Keiner kannte mehr das Leben in Freiheit, die Fähigkeiten ihrer Vorfahren waren längst in Vergessenheit geraten. Kaum einer war bereit, sein Leben aufs Spiel zu setzen für eine Rebellion, die nicht die ihre war. Lieber gehorchten sie den Befehlen ihrer menschlichen Meister, als sich gegen sie aufzulehnen. Vermithrax ’ Angriff auf die Stadt kostete viele Leben und legte ganze Viertel in Schutt und Asche, war aber letztlich zum Scheitern verurteilt. Sein eigenes Volk stellte sich gegen ihn. Es waren Löwen, die ihn bezwangen, jene Löwen, die er hatte befreien wollen und die nun aus freiem Willen die Handlanger der Menschen geworden waren.«
»Aber dann waren doch eigentlich sie die Verräter, nicht er!«
»Alles eine Frage des Blickwinkels. Für die Venezianer war Vermithrax ein Mörder, der aus heiterem Himmel über sie hergefallen war, zahllose Menschen getötet und noch dazu versucht hatte, die Steinlöwen gegen sie aufzubringen. Aus ihrer Sicht ist das, was sie taten, durchaus nachvollziehbar. Sie töteten die meisten Angreifer, doch einige
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