Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
Ereignissen noch erstaunen könnte?
Vermithrax gab keine Antwort, vielleicht überlegte er noch, oder er hatte keine eindeutige Meinung dazu. Die Königin aber gab die Frage zurück: »Was glaubst du denn selbst?«
»Ich weiß nicht.« Merles Blick strich über das ausdruckslose Gesicht der nächsten Statue, und sie fragte sich, ob die Künstler diese Züge tatsächlich so ohne jedes Gefühl geschaffen hätten, wenn dort unten die grauenvollsten Gefahren lauerten. »Professor Burbridge hat jedenfalls nichts von riesigen Feuern geschrieben, in denen die Verdammten schmoren. Oder von Kesseln und Folterkammern. Ich schätze, wir sollten ihm glauben. Abgesehen davon…« Sie brach ab.
»Was?«
Nach kurzem Zögern nahm Merle den Faden wieder auf. »Abgesehen davon würde eine Hölle wie in der Bibel gar keinen Sinn ergeben. Jemandem für alle Ewigkeit Schmerzen zuzufügen ist so… so unvernünftig, oder nicht? Man bestraft einen Menschen doch, damit er nicht noch einmal etwas Böses tut. Und natürlich, um alle anderen abzuschrecken. Wenn aber diejenigen, die selig sind und in den Himmel kommen, ohnehin nicht fähig sind zu sündigen, und die Sünder zugleich nichts Gutes mehr tun können, weil sie ja schließlich für immer in der Hölle gefangen sind… Ich meine, welchen Sinn soll dann alles haben?«
Die Königin schwieg dazu, aber Merle hatte das Gefühl, dass sie ihr im Stillen beipflichtete, sogar ein wenig stolz auf sie war. Davon ermutigt fuhr sie fort: »Wenn Gott tatsächlich unendlich gütig ist, so wie es in der Bibel steht, wie kommt es dann, dass er manche Menschen zu ewiger Verdammnis verurteilt? Wie, bitte, soll das zusammenpassen, Güte und Strafe?«
Zu ihrer Überraschung ergriff jetzt Vermithrax das Wort. »Du hast Recht. Warum soll man einen Schuldigen bestrafen, wenn ihn die Strafe gar nicht mehr verändern kann?«
»Klingt nach einer ziemlichen Verschwendung, finde ich.«
»Wir mögen das da unten Hölle nennen«, sagte die Königin, »aber ich glaube nicht, dass es irgendetwas mit dem zu tun hat, was eure Priester predigen. Weder mit Gott noch mit dem Teufel.«
»Sondern?«
»Nur mit uns selbst. Wir überleben, oder wir sterben. Das liegt ganz allein bei uns.«
»Kann jemand wie du überhaupt sterben?«
»Aber sicher«, sagte die Königin. »Ich lebe und sterbe mit dir, Merle. Ob ich will oder nicht.«
Merle wurde schwindelig bei diesen Worten - und zu ihrem Erstaunen fühlte sie wieder etwas wie Stolz. Zugleich aber spürte sie, wie das unsichtbare Gewicht auf ihren Schultern noch ein bisschen schwerer wurde.
»Was meint ihr?«, rief Vermithrax nach hinten. »Sollen wir es wagen?«
»Deshalb sind wir schließlich hergekommen.«
Merle nickte. »Versuchen wir’s!«
Sie fühlte zwischen ihren Knien, wie der Löwe Luft holte und einmal kurz alle Muskeln anspannte. Dann legte er sich schräg, flog einen engen Bogen und schoss über die Kante hinaus.
Der süßliche Geruch wurde noch stärker, als sie sich über dem Abgrund befanden, aber zu sehen gab es noch immer nichts außer der steilen Felswand und einem Meer aus Dunst. Das rote Glühen der Schwaden wirkte jetzt intensiver, so als verberge sich unter der Nebelschicht ein Lavasee, der sie innerhalb eines Augenblicks zu heißer Luft verdampfen würde.
Vermithrax spukten offenbar die gleichen Sorgen im Kopf herum. »Was ist unter den Wolken?«
»Darf ich?«, fragte die Fließende Königin. Merle fand, dass sie dabei eine Spur zu ironisch klang, zu selbstsicher.
»Mach nur.« Und ehe sie sich’s versah, sprach schon wieder die Königin aus ihrem Mund: »Es ist nur gewöhnlicher Nebel, nichts sonst. Es hat etwas damit zu tun, dass hier unterschiedliche Luftdichten aufeinander stoßen. Wahrscheinlich werdet ihr euch erst daran gewöhnen müssen, dort unten zu atmen.«
»Was sind Luftdichten?«, fragte der Löwe.
»Vertrau mir einfach.« Damit zog sie sich wieder zurück.
»Solche Sachen sagt sie ständig«, rief Merle dem Löwen zu.
»Wie hältst du das nur aus?«
Merle lagen ein Dutzend ätzender Bemerkungen auf der Zunge, aber sie verkniff sich eine Erwiderung. Insgeheim – und das gestand sie sich nur ungern ein – war sie sogar ein wenig froh, dass sich die Königin in ihr befand.
Manchmal tat es gut, jemanden zu haben, der alles über einen wusste, alles teilte und auf vieles eine Antwort hatte.
Und manchmal war es eine Plage.
Vermithrax begann mit dem Abstieg. Er stieß nicht in gerader Linie nach unten, sondern
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