Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
Wahrheit.«
»Das ist es nicht. Niemand will noch mehr Krieg, noch mehr Blutvergießen. Aber die Ägypter werden nicht mit sich reden lassen. Es gibt keinen anderen Weg. Die Frucht am Baum ist hilflos, wenn sie verfault - aber wir haben eine Wahl. Wir können eigene Entscheidungen treffen. Und wir können versuchen, uns zur Wehr zu setzen.«
»Und genau das bedeutet noch mehr Krieg. Noch mehr Tote.«
»Ja«, sagte die Königin bedrückt, »das bedeutet es wohl.«
Merle blickte wieder über Vermithrax’ Mähne nach vorn. Rechts und links hoben und senkten sich die Obsidianschwingen. Das sanfte Rauschen schwoll an und nahm wieder ab, sanft, fast gemächlich, aber Merle hörte es kaum mehr. Der Laut war ihr längst in Fleisch und Blut übergegangen, ebenso wie der pochende Herzschlag des Löwen; sie spürte ihn unter sich, als wäre sie selbst ein Teil dieses Steinkolosses, mit ihm verschmolzen, so wie die Königin jetzt ein Teil von ihr war. Sie fragte sich, ob darauf alles hinauslief: dass sie, die einst drei gewesen waren, immer mehr zu einem wurden, genau wie die Ägypter, die Millionen zählten, aber nur einem Verstand folgten, einer Hand, einem Auge - dem des Pharaos.
Ja, meldete sich eine zynische Stimme, die nicht der Königin gehörte, und am Ende erwartet dich der strahlende Prinz auf seinem weißen Ross und trägt dich in sein Schloss aus Blütenblättern.
Vermithrax’ Stimme riss sie zurück in die Wirklichkeit. »Das ist so… riesig!«
Merle sah, was er meinte. Je näher sie den Statuen kamen, desto titanischer erschienen sie ihr, als wüchsen sie immer noch weiter aus dem Erdreich empor, bis die steinernen Schädel irgendwann die Wolken durchbrechen und mit ihren Mündern die Sterne verschlingen würden.
»Es sind Wächter. Die Ägypter haben sie erbaut«, sagte die Königin mit Merles Stimme, damit auch Vermithrax sie hörte. »Hier sind einstmals die Heere Ägyptens auf die Armeen des Zarenreichs gestoßen. Schaut euch um, alles ist wüst und zerstört und unbewohnbar. Sogar die Vögel und Insekten sind von hier geflohen. Es heißt, schließlich hätte sich die Erde selbst vor Schmerz und Elend aufgebäumt, ein letzter Kraftakt, um dem Kampf ein Ende zu machen, und sie verschlang alle, die sich auf ihr befanden.«
»Es sieht wirklich so aus, als wäre der Boden eingestürzt«, sagte Vermithrax. »Einfach in sich zusammengebrochen. So was schafft kein Erdbeben.«
»Es hat nur zweimal in der Geschichte etwas Vergleichbares gegeben. Zum einen den Erdrutsch, der vor ein paar Jahren Marrakesch verschlungen hat - und vermutlich waren dort dieselben Kräfte am Werk wie hier -, und dann natürlich die Wunde, die der Sturz von Luzifer Morgenstern ins Erdreich gerissen hat.«
»Morgenstern?«, fragte Vermithrax.
»Selbst ein Steinlöwe muss davon gehört haben«, sagte die Königin. »Vor unendlich langer Zeit - so erzählen es sich die Menschen - soll ein brennendes Licht vom Himmel direkt auf die Erde gefallen sein. Viele Geschichten ranken sich um seine Herkunft, aber die meisten glauben noch heute, dass es der Engel Luzifer war, der sich gegen seinen Schöpfer gewandt hatte und von ihm aus dem Himmel verstoßen wurde. Brennend fiel Luzifer in die Tiefe, riss ein Loch in die Erde und stürzte hinab in die Hölle. Dort schwang er sich zum Herrscher und mächtigsten Widersacher seines Schöpfers empor. So wurden aus Engeln Teufel - zumindest behaupten das die alten Legenden.«
»Wo ist dieser Ort, an dem Luzifer die Erde durchschlagen hat?«, fragte Vermithrax.
»Niemand kennt ihn. Vielleicht liegt er irgendwo am Meeresgrund, wo noch niemand nachgeschaut hat - außer die Bewohner der Subozeanischen Reiche, wer weiß…«
Merle spürte, wie sich ihre Zunge löste, und endlich konnte sie wieder selbst sprechen. »Ich kann es nicht leiden, wenn du das tust.«
» Verzeih .«
»Das sagst du nur so.«
»Ich bin auf deine Stimme angewiesen. Wir können Vermithrax nicht ausschließen.«
»Aber du könntest höflich fragen, wie wäre das?«
»Ich werd mir Mühe geben. «
»Glaubst du diese Geschichte? Ich meine, über Luzifer Morgenstern und all das?«
»Es ist eine Legende. Ein Mythos. Keiner weiß, wie viel davon der Wahrheit entspricht.«
»Dann hast du diesen Ort im Meer nicht selbst gesehen?«
»Nein.«
»Aber du kennst die Subozeanischen Reiche.«
»Ich kenne niemanden, der den Ort mit eigenen Augen gesehen hätte. Und niemanden, der mit Sicherheit wüsste, ob er überhaupt je existiert
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