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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hat.«
    Auf diese Weise würde sie nichts mehr aus der Königin herausbekommen. Aber was scherten sie im Augenblick auch die Subozeanischen Kulturen? Ein viel drängenderes Problem lag direkt vor ihr, spannte sich mittlerweile von einem Horizont zum anderen.
    Sie waren noch einige Dutzend Meter vom Rand des Höllenlochs entfernt. Vor ihnen wuchs eine der zehn Statuen empor, beeindruckender als die Kathedrale von San Marco. Es war die Gestalt eines Mannes mit nacktem Oberkörper und bloßen Beinen. Nach Art der alten Ägypter hatte er nur ein Lendentuch um seine Hüften geschlungen. Sein Schädel war haarlos, glatt wie eine polierte Kugel. Allein dieser Kopf musste etliche Tonnen wiegen. Die Gestalt hatte beide Ellbogen angewinkelt und die Handflächen vor der Brust gegeneinander gelegt, sodass die Arme zusammen ein grobes Dreieck formten. Die Steinfinger waren in einer komplizierten Geste miteinander verschlungen.
    Merle unterdrückte den Impuls, sie mit ihren eigenen Händen nachzuahmen; sie hätte dazu Vermithrax’ Mähne loslassen müssen.
    »Bitte ihn, an zwei anderen Statuen vorbeizufliegen«, sagte die Fließende Königin.
    Merle gab den Wunsch an den Obsidianlöwen weiter. Sogleich flog Vermithrax eine Schleife und wandte sich nach Osten, wo sich in ein paar hundert Metern Entfernung der nächste Steingigant befand. Jede dieser monumentalen Gestalten stand mit dem Rücken zum Abgrund, ihre pupillenlosen Augen blickten starr in die Ferne.
    »Und die Ägypter haben sie gebaut?«, fragte Merle.
    »Ja. Nachdem das Schlachtfeld im Boden versunken war, nutzten die übrig gebliebenen Armeen des Zarenreichs die Chance zur Flucht. Sie zogen sich viele tausend Meilen nach Nordosten zurück und errichteten dort eine neue Grenze, die sie auch heute noch halten. Die Ägypter umrundeten das Gebiet und setzten ihren Vormarsch fort, während ihre Priester diese Statuen errichten ließen, um über den Eingang ins Innere der Erde zu wachen.«
    »Nur symbolisch, hoffe ich.«
    Die Königin lachte. »Ich glaube nicht, dass die Statuen plötzlich zum Leben erwachen, wenn wir an ihnen vorbeifliegen. Falls es das ist, was du meinst.«
    »An was Ähnliches hab ich gedacht, ja.«
    »Na ja, ich selbst war natürlich noch nicht hier und -«
    Merle unterbrach sie mit einem Räuspern.
    »Ja?«
    »Halt bitte den Mund.«
    »Hätte ich einen, müsste ich nicht immer deinen benutzen.«
    »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein Besserwisser bist?«
    »Niemand.«
    »Dann ist das hier die beste Gelegenheit.« »Was ist ein Besserwisser?«
    Merle stieß ein Ächzen aus und wandte sich an den Löwen. »Vermithrax, war sie schon immer so?«
    »Wie denn?«, fragte der Obsidianlöwe, und sie hatte das Gefühl, dass er dabei schmunzelte, auch wenn sie vom Rücken aus sein Gesicht nicht sehen konnte.
    »So anstrengend.«
    »Anstrengend, hm? Ja… ja, ich glaube, das könnte man so sagen.«
    Wieder lachte die Königin in ihrem Inneren, verzichtete aber auf eine Bemerkung. Merle konnte kaum fassen, dass sie einmal nicht das letzte Wort haben musste.
    Die zweite Statue unterschied sich nicht wesentlich von der ersten, mit Ausnahme der Finger, die auf andere Weise miteinander verschränkt waren. Auch die dritte Figur wies eine abweichende Geste auf. Ansonsten glichen sie sich wie ein Ei dem anderen.
    »Reicht das?«, fragte Vermithrax.
    »Ja«, sagte die Fließende Königin, und Merle gab es an den Löwen weiter.
    Vermithrax umrundete die dritte Statue, ohne dass sie erwachte.
    »Hast du wirklich erwartet, sie setzt sich mit einem Mal in Bewegung, um uns mit der Hand aus der Luft zu fangen?«
    Merle zuckte mit den Achseln. »Ich glaube, ich weiß schon lange nicht mehr, was ich erwarten soll und was nicht. Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich Vermithrax aus seinem Kerker befreien würde. Oder auf ihm durch die Gegend flöge. Abgesehen von all den anderen Dingen, die in den letzten Tagen passiert sind.«
    Sie versuchte, einen Blick über den Rand des Abgrunds zu erhaschen, sah aber nur Fels und feine Dunstschlieren, getaucht in einen rötlichen Schimmer. Sie war nicht sicher, ob es an der Sonne lag, die hoch über dem Ödland stand, oder ob sich die Quelle der diffusen Glut im Erdinneren befand.
    »Denkt ihr, das da unten ist wirklich die Hölle? Ich meine, wie in der Bibel oder in den Bildern auf den Kirchenaltären?« Ihr skeptischer Ton überraschte sie selbst. Hatte sie nicht gerade erst erklärt, dass es nichts mehr gäbe, das sie nach all den

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