Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
Nacht hatten ein Übriges getan, den Kampfesmut der Bürger zu zerschlagen. Die meisten hatten einfach aufgegeben: die Stadt und sich selbst. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, wann die Ersten aus ihren Häusern verschleppt und auf Booten fortgebracht wurden.
Die beiden Jungen schlichen an der Fassade des Palazzo vorüber. Im Flüsterton erkundigte sich Serafin nach den zugemauerten Fenstern im Erdgeschoss, doch Dario wusste nicht, was sich dahinter verbarg. Keiner betrat jemals das untere Stockwerk, das war Gesetz. Es gab nicht einmal Türen.
Zum Kanal der Ausgestoßenen war es nicht weit, im Laufschritt keine fünfzehn Minuten. Doch sie mussten mehrfach Umwege machen, als ihnen von jenseits einer Biegung das Klirren von Stahl entgegenschallte oder rhythmische Schritte, niemals aber Stimmen. Einmal sahen sie eine der Mumienpatrouillen, nur wenige Schritte entfernt, während sie sich in eine Nische pressten und hofften, dass die Sklaven des Pharaos sie nicht witterten. Eine Wolke aus Staub stieg in Serafins Nase, als die knochigen Gestalten vorübermarschierten.
Nach einigen Minuten erreichten sie eine kleine Kreuzung. Hier zweigte der Kanal der Ausgestoßenen von einer breiteren Wasserstraße ab. Serafins Herz machte einen Sprung, als er die verlassene Brücke und die ausgestorbenen Gehwege sah. An dieser Stelle, vor gar nicht allzu langer Zeit bei einem Lampionfest, hatte für Merle und ihn alles begonnen. Der Gedanke erfüllte ihn mit Trauer und Furcht. Wo steckte Merle nur?
Am Kanal der Ausgestoßenen hatte sich nichts verändert. Fast alle Häuser der Sackgasse waren seit langer Zeit unbewohnt, Türen und Fensterscheiben zerstört. Nur die beiden Werkstätten, die einander mit ihren grauen Fassaden über das Wasser hinweg anstarrten wie die Gesichter alter Männer, waren bis vor kurzem bewohnt gewesen. Jetzt aber hatten Umbertos Weber ihr Haus verlassen, und auch die Fenster der Zauberspiegelwerkstatt waren dunkel.
»Bist du sicher, dass sie noch hier sind?«, fragte Dario, als sie sich der Spiegelwerkstatt näherten. Immer wieder vergewisserten sie sich, dass niemand ihnen folgte. Serafin hielt am Himmel nach fliegenden Löwen Ausschau, obwohl er in der Finsternis kaum etwas erkennen konnte. Falls dort etwas Dunkles, Massiges an den Sternen vorüberrauschte, war es zu schnell für seine müden Augen.
»Du müsstest Arcimboldo besser kennen als ich«, sagte er. »Ich hatte nicht den Eindruck, dass er ein Mann ist, der sein Haus im Stich lässt und sich in irgendeinem Loch verkriecht.«
Dario erwiderte seinen Blick mit einem zornigen Funkeln, aber dann begriff er, dass Serafins Worte kein Angriff waren. Langsam nickte er. »Vielleicht hätten wir ihn und Unke nicht zurücklassen sollen.« Er hatte nicht vergessen, was er Arcimboldo zu verdanken hatte.
Serafin legte eine Hand auf seine Schulter. »Er wusste, dass ihr gehen würdet. Er hat es mir gesagt. Und ich glaube, ein wenig hat er es sogar gewollt.«
»Darüber hat er mit dir gesprochen?« Dario sah ihn an. »Wann?«
»Vor ein paar Tagen. Ich war mit ihm draußen in der Lagune, nachdem ihr die Spiegel in die Gondel geladen habt.« »Die letzte Lieferung…« Darios Stimme klang mit einem Mal nachdenklich, während sein Blick zum Eingang der Spiegelwerkstatt wanderte. »Er hat uns nie gesagt, wohin er all die Spiegel bringt. Oder wer sie ihm abkauft.« Er schrak auf und starrte Serafin an. »Sind etwa das die Leute, vor denen wir ihn beschützen sollen? Sind wir ihretwegen hier?«
Serafin war drauf und dran, ihm die ganze Geschichte zu erzählen: dass er beobachtet hatte, wie Arcimboldo seine Zauberspiegel dem Höllenboten Talamar übergeben und wie Talamar für seinen Meister Lord Licht das Mädchen Junipa gefordert hatte. Das Mädchen mit den Spiegelaugen.
Aber dann schwieg er und nickte nur knapp.
»Was sind das für Leute?«, fragte Dario.
Serafin seufzte. »Wenn wir Pech haben, begegnen wir heute Nacht einem von ihnen.« Er wollte weitergehen, aber Dario hielt ihn an der Schulter zurück.
»Komm schon, rück’s raus.«
Serafin blickte von Dario zu der dunklen Werkstatt, dann wieder zurück zu dem Jungen. Es fiel ihm nicht leicht, die Wahrheit zu sagen. Dario würde ihm nicht glauben.
»Die Hölle«, sagte er schließlich. »Arcimboldo hat seine Spiegel jahrelang an Lord Licht verkauft. An einen seiner Boten.«
»Lord Licht?« Darios Stimme blieb ruhig, so als überraschte ihn diese Neuigkeit nicht wirklich. Dann nickte er
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