Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
war, ließ ihr Herz einen Schlag lang aussetzen. Aber die Königin hatte gesagt, dass er am Leben war. Merle wollte das nicht in Frage stellen. Nicht hier, nicht jetzt.
Der Kreis der Lilim hatte sich bis auf einige Meter um sie geschlossen. Obwohl die Zahl der Spinnenwesen überwog, waren da nun auch wieder andere zwischen ihnen, flach an den Boden gedrückt oder zweibeinig oder auch ganz ohne Gliedmaßen, ein wirbelndes, wimmelndes, flüsterndes Chaos aus Krallen und Stacheln und Spitzen und Augen.
So viele Augen.
Und überall Bewegung, Rumoren unter schillernden Oberflächen, glänzend von Nässe, wie ein Gewirr aus Algen und Treibgut in der Meeresbrandung.
»Jemand kommt.«
Ehe Merle fragen konnte, woher die Königin das wusste, teilte sich die Mauer der Lilim. Die vorderen verstummten, manche senkten ehrerbietig die Häupter - oder das, was Merle dafür hielt.
Sie hatte einen Befehlshaber erwartet, eine Art General, vielleicht eine Bestie, größer als alle anderen, etwas, das die Übrigen an Kraft und Grausamkeit und purer Scheußlichkeit bei weitem übertraf.
Stattdessen sah sie einen kleinen Mann in einem Rollstuhl.
Er wurde von etwas geschoben, das entfernte Ähnlichkeit mit einem Knäuel glitzernder Bänder hatte, die in ständiger Bewegung waren, sich in- und umeinander wanden und sich dabei vorwärts bewegten. Erst im Näherkommen erkannte sie, dass es nicht ein Wesen war, sondern unzählige: eine Vielzahl von Schlangen, die sich bewegten wie ein einziger Organismus, zusammenhängend und kontrolliert. Ihre Köpfe schnellten wachsam vor und zurück, und ihre Körper schillerten in unvorstellbaren Farben, schöner als alles, was Merle seit ihrer Flucht aus Venedig gesehen hatte.
Der Mann im Rollstuhl musterte Merle ohne jede Regung. Kein Lächeln, auch keine Bösartigkeit. Nur blanke, leere Züge - das Interesse eines Wissenschaftlers, der eine neue, aber nicht besonders faszinierende Spezies unter einer Lupe betrachtet.
Die Kälte in seinen Augen ließ Merle schaudern. Sie machte ihr mehr Angst als das tausendköpfige Heer von Ungeheuern.
War das etwa Lord Licht? War der Herrscher der Hölle tatsächlich dieser kleine Mann mit den toten Gesichtszügen?
»Nein«, sagte die Fließende Königin.
Merle hätte sie gerne gefragt, was sie so sicher machte, doch der Mann im Rollstuhl ließ ihr kein Zeit. Seine Stimme war alt und knarrend, wie das Brechen von hart gewordenem Leder.
»Was tun? Was tun?«, murmelte er mehr zu sich selbst als zu irgendwem sonst.
Dann: »Ich weiß. Ich weiß.«
Merle dachte: Er hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.
Er gab dem Schlangennest hinter seinem Rollstuhl ein Zeichen, und sofort quollen die Stränge herum und drehten den Stuhl, schoben ihn zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.
»Bringt sie zu mir«, schnarrte der Mann mit dem Rücken zu Merle. »Bringt sie ins Herzhaus.«
Der Anschlag
Sie waren zu siebt.
Zu viele, dachte Serafin, während er sich durch die Dunkelheit schob. Immer noch zu viele.
Fünf Jungen, einschließlich ihm selbst und Dario. Außerdem zwei schlanke Gestalten, zwei Frauen. Größer als einige der Jungen - Rebellen, ermahnte er sich voller Zynismus -, aber kleiner als er selbst.
Unke hatte sich wieder das Tuch vors Gesicht gezogen, auch wenn er nicht sicher war, weshalb. Sie würden in dieser Nacht voraussichtlich Schlimmeres sehen als das Maul einer Meerjungfrau. Aber sie bestand auf ihrer Maskerade, obwohl er nicht glaubte, dass sie sich für ihre Herkunft schämte. Sie war eine Meerjungfrau und würde es immer bleiben. Die menschlichen Beine, die Unke statt ihres kalimar, ihres Schuppenschwanzes, trug, waren nur eine Äußerlichkeit. In ihren Adern aber floss die salzige See, das Wasser der Lagune.
Die zweite Frau war Lalapeja. Die Sphinx hatte ihre menschliche Gestalt angenommen, und Serafin kam es inzwischen fast wie ein böser Traum vor, dass er sie mit ihrem Löwenleib gesehen hatte. Jede Minderung ihrer Perfektion, jeder noch so geringe Makel schienen absurd in Anbetracht solcher Vollendung. Er musste sich mit Gewalt ins Gedächtnis rufen, dass auch dies nur ein Teil ihres Zaubers war. Die Magie endete nicht mit der Veränderung ihres Äußeren; sie manipulierte die Gedanken all jener, die sie ansahen, so wie sie alles, das um sie herum geschah, zu manipulieren schien.
Und Serafin fragte sich nach wie vor, ob das, was sie taten, richtig war. Warum gehorchte er Lalapeja? Was war es, das ihn und die anderen ihr
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