Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
auf dem Uferweg, unweit einer Kanalmündung: Der Umriss eines mächtigen Löwen mit dem Oberkörper einer jungen Frau. Sie hatte beide Arme zum Himmel erhoben und den Kopf in den Nacken gelegt. Ihr langes Haar trieb auf den Winden wie Rauchschwaden.
»Sie ist es«, sagte Unke. Niemand außer Serafin hörte sie. Die anderen Jungen starrten immer noch gebannt zum Sammler und zur Insel hinüber.
Serafin spürte, wie all der Hass und all die Wut in seinem Inneren sich auf einen Schlag Bahn brachen. Er sah Boro vor sich, wie er inmitten des Flammenmeers gestanden hatte, kurz bevor ihn der Sphinx erreichte. Und nun stand Lalapeja da, die all das verursacht hatte, und wirkte irgendeine Magie, um die Flüchtlinge aufzuhalten.
»Serafin!«, schrie Unke. Aber es war zu spät.
Er hatte den Säbel in seinen Gürtel geschoben, und ehe jemand ihn daran hindern konnte, tauchte er mit einem Kopfsprung in die Fluten. Das Wasser schloss sich über ihm, versiegelte seine Augen und Ohren mit dumpfer Stille und Finsternis. Er verschwendete nicht mehr als einen knappen Gedanken an die Meerjungfrauen, die überall um ihn im Wasser schwebten; dachte auch nicht an den Sammler oder San Michele oder einen seiner Freunde.
Dachte nur an Lalapeja.
Er tauchte auf, schnappte nach Luft und kraulte los, so schnell er konnte - und das war erstaunlich schnell, angesichts seiner Erschöpfung, die jetzt wie ein Bündel Lumpen von ihm abfiel. Verschwommen sah er das Ufer näher kommen, nur noch wenige Meter. Er hatte das Gefühl, nicht allein zu sein, dass da Körper waren, rechts und links, sogar unter ihm. Doch falls die Meerjungfrauen ihm tatsächlich folgten, machten sie keinen Versuch, ihn zu stoppen.
Seine Hand schlug gegen kalten Stein, glitschig von Algen und Abwässern. Das gemauerte Ufer war fast zwei Meter hoch, er würde nie im Leben ohne Hilfe dorthinauf klettern können. Immer noch voller Zorn schaute er sich um, sah den Körper eines Mumienkriegers neben sich im Wasser treiben und entdeckte dann ein Stück weiter links einen Bootssteg. Mit wenigen Stößen schwamm er hinüber und kletterte in eines der vertäuten Ruderboote. Hinter ihm entstand ein heftiger Wirbel im Wasser, als eine Meerjungfrau unter der Oberfläche einen Haken schlug und zum Schildkrötenpanzer zurückkehrte.
Im Boot schaute Serafin sich um. Er war abgetrieben worden und befand sich gut zweihundert Meter von Lalapeja entfernt. Die Sphinx hatte jetzt beide Hände hoch über ihrem Kopf verschränkt, und dort bündelte sich der Lichtschein, der von den Dächern an den Fassaden herabkroch wie etwas Lebendiges, ein gleißender, funkelnder Teppich aus Helligkeit, wabernd wie ein Nebel, der von innen heraus erleuchtet wurde. Eine strahlende Aureole umgab Lalapejas Hände, weitete sich entlang ihrer Arme bis auf ihren Körper aus und umhüllte sie schließlich ganz.
Serafin wartete nicht ab, worauf all das hinauslaufen mochte. Er konnte nicht zulassen, dass die Sphinx den anderen mithilfe ihres Zaubers etwas antat. Sie hatte schon zu viel Leid verursacht. Und dies war wahrscheinlich die letzte Gelegenheit, es ihr heimzuzahlen.
Er riss den Säbel heraus, sprang vom Boot auf den Steg und rannte zum Ufer hinüber. Seine Schritte pochten hohl über das Holz, aber Lalapeja bemerkte ihn nicht. Sie war wie in Trance, ganz auf den vernichtenden Schlag konzentriert. In dem überirdischen Licht sah sie aus wie eine Madonnenerscheinung mit dem Unterleib eines Ungeheuers, eine blasphemische Karikatur aus der Feder eines mittelalterlichen Miniaturenmalers, überwältigend schön und schrecklich zugleich.
Einmal nur, ganz kurz, blickte Serafin über das Wasser zu dem Schildkrötenpanzer. Unke war aufgesprungen und hielt sich in der heftig schaukelnden Hornschale aufrecht. Sie rief etwas zum Ufer herüber, vielleicht versuchte sie, Lalapejas Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Doch die Sphinx beachtete sie nicht.
Die anderen Jungen hatten bemerkt, was geschehen war, und ihre Blicke pendelten zwischen dem Albtraumspektakel auf der Friedhofsinsel und dem Geschehen am Ufer hin und her. Dario winkte Serafin mit dem Säbel zu, aufmunternd womöglich, weshalb auch sonst?
Noch dreißig Meter bis zur Sphinx. Noch zwanzig.
Das Glühen intensivierte sich.
Serafin hatte sie fast erreicht, als Lalapeja abrupt den Kopf umwandte und ihn ansah. Ihn aus dunkelbraunen, wunderschönen Augen ansah.
Serafin wurde nicht langsamer. Er ließ lediglich den Säbel fallen - gegen seinen Willen? -, dann
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