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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Gegenwind fuhr in die Gesichter der fünf Passagiere. Unke zog die Nadeln aus ihrem langen Haar und schüttelte es aus. Es flatterte wild wie eine schwarze Flagge in ihrem Rücken, eine Piratenkönigin auf Beutezug.
    Aber obwohl sie alle sich festhalten mussten, konnten sie ihre Blicke nicht von dem Sammler über der Friedhofsinsel lösen. Sie ahnten, was er dort vorhatte.
    »Können sie das wirklich tun?«, murmelte Giovanni erschüttert.
    »Ja«, sagte Dario wie betäubt. »Das können sie ganz bestimmt.«
    Aristide begann wieder leise zu brabbeln, unverständliches Zeug, das Serafin den letzten Nerv raubte. Aber er war zu müde, um den Jungen anzufahren. Nicht einmal der Anblick des Sammlers vermochte ihn aus seiner Lethargie zu reißen. Gerade eben waren sie daran gescheitert, die Lebenden zu retten; was scherten ihn da die Toten?
    »Meine Eltern sind dort drüben begraben«, sagte Dario tonlos.
    »Und meine«, flüsterte Tiziano.
    Aristide stöhnte; vielleicht waren es auch Worte.
    Unke warf Serafin einen Blick zu, aber er ignorierte sie. Nicht nachdenken. Nicht hinschauen. Ich will das alles nicht wissen.
    An der Unterseite des Sammlers erschien ein leuchtendes Netzwerk aus Linien und Haken, flammte plötzlich in der Finsternis auf und erstarrte, ein Gewitter aus Blitzen, die alle gleichzeitig erschienen und nicht mehr verblassten.
    »Es geht los«, sagte Giovanni.
    Die ersten Lichthaken lösten sich aus der Schwärze und fuhren lautlos in die Tiefe, verschwanden hinter der Mauer der Friedhofsinsel. Keiner der fünf hatte je einen Sammler bei der Arbeit erlebt, aber sie kannten die Geschichten. Sie wussten, was geschehen würde.
    Immer mehr leuchtende Linien setzten sich von der Unterseite des Sammlers in die Tiefe fort, schufen ein verzahntes, vielfach verwinkeltes Gitter zwischen der fliegenden Pyramide und der Insel San Michele.
    Serafin ertrug das Entsetzen auf den Gesichtern seiner Gefährten nicht länger. Er wandte sich ab. Sein eigener Vater war vor seiner Geburt verschwunden, seine Mutter bei einem Fährunglück vor zwölf Jahren ums Leben gekommen; ihr Körper war nie gefunden worden. Aber er spürte die Trauer und das Grauen seiner Freunde, und es schmerzte beinahe ebenso sehr, als hätte er selbst Angehörige oder Freunde, die auf San Michele begraben waren.
    Sein Blick wanderte zum Ufer Venedigs hinüber. Die Küstenlinie des Cannaregio-Viertels zog immer schneller an ihnen vorüber, während die acht Meerjungfrauen im Wasser den Schildkrötenpanzer noch kraftvoller über die dunklen Wogen bewegten. Hin und wieder tauchte eine von ihnen an den Rändern des Hornpanzers auf, doch die meiste Zeit blieben sie unter Wasser, unsichtbar in der Schwärze.
    Serafin sah Mumienkrieger, die auf den Ufermauern und an den Molen patrouillierten, aber sie schenkten weder dem Sammler im Himmel über der Friedhofsinsel noch dem Schildkrötenpanzer Beachtung.
    Und da war noch etwas.
    Der Himmel über den Dächern hellte sich auf, ein schmaler Lichtrand, der wie Elmsfeuer über den Dächern und Giebeln tanzte. Es war noch zu früh für den Sonnenaufgang, zudem stimmte die Himmelsrichtung nicht: Im Osten war der Himmel nach wie vor tiefschwarz.
    Feuer, dachte Serafin. Das Feuer in der Spiegelwerkstatt hatte vielleicht das ganze Viertel in Brand gesetzt. Er ließ die Vorstellung nicht nah genug an sich heran, um wirklich zu erschrecken, aber er schaute dennoch zu Unke hinüber, um sicherzugehen, dass auch sie den seltsamen Schein bemerkte.
    Über ihre Schulter hinweg sah er, dass das Lichternetz des Sammlers die gesamte Insel umsponnen hatte. Staubund Erdwolken stoben hinter den Mauern auf.
    Auch Unke blickte jetzt nicht mehr nach San Michele hinüber. Sie schaute zurück zur Stadt, und ihre Augen leuchteten, als hätte jemand Kerzen in ihren Höhlen entzündet. Nur eine Spiegelung. Die Reflexion einer neuen, gleißenden Helligkeit.
    Serafin wirbelte herum. Das Elmsfeuer über Cannaregios Giebeln hatte sich zu einem tosenden Inferno ausgeweitet.
    Und doch - es waren keine Flammen! Keine Feuersbrunst! Serafin hatte noch nie etwas Schöneres gesehen, so als senkten sich die Engel selbst auf die Lagune herab.
    Dann entdeckte er noch etwas anderes.
    Die Mumienkrieger auf der Ufermauer patrouillierten nicht mehr. Einige lagen reglos am Boden, andere trieben im Wasser. Jemand hatte sie in Windeseile ausgeschaltet, schnell wie ein tödlicher Windstoß, der das Ufer gestreift hatte.
    Nur eine einzige Gestalt stand jetzt noch

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