Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
können. Alles, was geschehen war. Es hatte in seiner Hand gelegen. Wenn er seinem Instinkt gefolgt wäre und die Bitte der Sphinx abgelehnt hätte; wenn er sich nicht gegen besseres Wissen auf dieses Himmelfahrtskommando eingelassen hätte; und wenn er Unke nicht geglaubt hätte, als sie sagte, Lalapeja sei zu trauen; ja, wenn er bei alldem nur einmal, ein einziges Mal, seinem Gefühl gefolgt wäre, dann wäre Boro jetzt noch am Leben.
Es hatte sich falsch angefühlt. Serafin hatte gewusst, tief im Herzen hatte er gewusst, dass dies kein Spiel war, keine seiner Meisterdiebereien. Er war geschmeichelt gewesen, dass die Sphinx gerade ihn ausgewählt hatte, sie in den Palast zu schleusen. Und er war hereingefallen, auf jede einzelne ihrer Lügen.
Er blickte hoch und sah in Unkes dunkle Augen. Die Meerjungfrau starrte ihn an, undurchschaubar wie immer. Sie riss sich das Tuch vom Gesicht und entblößte ihr Raubfischgebiss. »Warte noch, bevor du sie verurteilst«, sagte sie. Ohne Tuch oder Maske klang ihre Stimme zischelnder, jedes »S« ein wenig schärfer als sonst.
»Nicht… verurteilen?«, wiederholte er ungläubig. »Das ist doch nicht dein Ernst.«
Aber Unke antwortete nicht, wandte sich nur um und rannte weiter, hinter den anderen her, die sich an die Spitze gesetzt hatten.
Serafin wurde schneller, bis er die Meerjungfrau wieder eingeholt hatte. Wie hatte sie das gemeint? Wie konnte sie verlangen, dass er Lalapeja nicht für ihren Verrat verurteilte, nicht dafür, dass Boro tot im obersten Stockwerk des Dogenpalastes lag und auch sie selbst die nächsten Stunden vermutlich nicht überleben würden? Für all das sollte er sie nicht verurteilen!
Hätte er noch den Atem und die Kraft gehabt, so hätte er laut aufgelacht. Und er hätte gerne jemanden angeschrien, Unke vielleicht oder einen der anderen, um seinem hilflosen Zorn Luft zu machen und irgendwen, egal wen, zu verletzen, so wie er selbst verletzt worden war.
»Lass es«, sagte Unke, während sie sich unter einem niedrigen Torbogen bückte. »Es hilft nichts.«
Es dauerte einen Moment, ehe ihm klar wurde, dass ihr die gleichen Gedanken durch den Kopf gehen mussten wie ihm, der gleiche Hass, die gleiche Enttäuschung.
Sie waren alle betrogen worden. Lalapeja hatte sie ans Messer geliefert.
Mit letzter Kraft erreichten sie die unterirdische Anlegestelle. Ein breiter Kanal verlief ein Stück weit parallel zum Weg. Ein Boot trieb auf den Wellen, schlug dann und wann hohl gegen das Mauerwerk. Es war eigenartig geformt, größer und runder als ein normales Ruderboot und in keiner Weise zu vergleichen mit den langen, schlanken Gondeln.
»Eine Meeresschildkröte«, sagte Unke. »Oder, besser, ihr Panzer. Das, was von ihrem Kadaver übrig geblieben ist, nachdem er eine Weile am Meeresgrund gelegen hat.«
Der Schildkrötenpanzer trieb auf dem Rücken. Er hatte einen Durchmesser von mehreren Metern und war ausgehöhlt wie eine riesige Suppenschüssel.
Unke winkte ihnen hektisch zu. »Los, klettert dort rein!«
Dario zögerte. »In eine Schildkröte?«
»Ja, verdammt!« Aus Unkes Augen sprühte Zorn. »Wir haben keine Zeit mehr!«
Der Reihe nach kletterten sie zwischen Algen und den verkrusteten Überbleibseln früherer Meeresbewohner in die Körperschale, bemüht, so wenig davon zu berühren wie möglich.
Unke kletterte als Letzte in die schwimmende Hornschale und setzte sich zu ihnen auf den Boden. Serafin spürte die warzige Oberfläche des Panzers durch den dünnen Stoff seiner Hose, doch es kümmerte ihn nicht. Er fühlte sich ausgebrannt, sein Inneres war zu Eis erstarrt.
Mit einem Mal erhoben sich rund um ihr Gefährt Köpfe aus dem Wasser, erst nur bis zu den Augen - großen, wunderschönen Augen. Dann zeigten die Meerjungfrauen auch den Rest ihrer Gesichter. Im Dunkeln leuchteten ihre Zähne wie Mondsplitter, die auf dem Wasser trieben.
Es waren acht, genug, um den schweren Schildkrötenpanzer durch das Labyrinth der Kanäle auf das offene Wasser zu schleppen. Aristide redete mit sich selbst und konnte den Blick nicht von der Meerjungfrau lassen, die ihm im Wasser am nächsten war, obwohl im Dunkeln kaum mehr als ein breiter Haarfächer zu erkennen war, der sich jetzt langsam vorwärts schob. Mit ihm und den anderen Meerweibern setzte sich auch der Panzer in Bewegung, ein ungewöhnliches, aber effektives Floß, auf dem die Überlebenden nun durch die Finsternis glitten. Ein leichter Geruch nach totem Fisch und Algen hing in der
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