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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Luft.
    Serafins Blick suchte Unke. Die Meerjungfrau hatte sich abgewandt und stützte sich mit den Unterarmen auf den Rand der Hornschale. Ausdruckslos starrte sie ins dunkle Wasser. Ihr war anzusehen, wie sehr sie sich danach sehnte, mit ihren Schwestern durch die kalte Strömung zu gleiten, mit einem Schuppenschwanz statt Beinen.
    Die Meerjungfrauen zogen und schoben sie um eine Vielzahl von Kehren und Biegungen, durch niedrige Tunnel und offene Wasserwege, die zwischen Fassaden ohne Fenster verliefen, durch verborgene Gärten und, einoder zweimal, sogar durch Wasserwege im Inneren von verlassenen Gebäuden. Serafin hatte schon bald die Orientierung verloren. Nicht, dass er allzu viele Gedanken daran verschwendete.
    Er konnte nur an Lalapeja denken, an das, was sie ihnen angetan hatte. Er verstand ihre Gründe nicht. Wieso rief sie erst eine Rebellion ins Leben, um sie dann so sinnlos aufzureiben?
    Warte noch, hatte Unke gesagt, bevor du sie verurteilst.
    Er hätte sie gerne gefragt, was sie damit gemeint hatte, aber dies war nicht der Zeitpunkt dazu. Keinem von ihnen war nach Reden zu Mute. Vielleicht wäre es besser gewesen, womöglich hätte es sie von einem Teil der Last und des Leids befreit. Aber das kümmerte im Augenblick niemanden. Sie alle brüteten stumm vor sich hin, mit Ausnahme Aristides, der weiterhin leise unzusammenhängende Sätze murmelte und mit aufgerissenen Augen ins Leere starrte.
    Es war eine Sache, von Mumienkriegern zu hören und von Sphinxen und von dem, was Sichelschwerter einem Menschen antun - aber es war etwas vollkommen anderes, einen Freund sterben zu sehen, in der Gewissheit, dass er sein Leben für das ihre ließ.
    Serafin war nicht sicher, ob sie sich verteidigen würden, falls man sie jetzt angriff. Es war nicht wie in den Geschichten, in denen sich Helden ein ums andere Gefecht liefern, immer auf der Flucht und mit einem flotten Spruch auf den Lippen.
    Nein, so war es ganz und gar nicht.
    Sie hatten alles aufs Spiel gesetzt, und sie hatten verloren. Boro war tot. Es würde Zeit vergehen, ehe die Überlebenden darüber hinwegkamen. Selbst Unke, die tapfere, harte, grimmige Unke, schwitzte Trauer wie Schweiß aus allen Poren.
    Anhand einiger Dächer erkannte Serafin, dass sie das Cannaregio-Viertel nach Norden hin durchquerten. Falls die Meerjungfrauen vorhatten, sie aus Venedig zu schaffen, war dies der beste Weg - irgendwo im Norden lag das Festland. Aber er gab sich keinen Illusionen hin:
    Auf dem offenen Wasser würden die Ägypter sie aufspüren. Selbst wenn der Belagerungsring nicht mehr existierte - schließlich war die Stadt eingenommen -, mussten dort draußen genug Patrouillen unterwegs sein, um sie binnen kürzester Zeit zu entdecken.
    Aber er widersprach nicht. Er war erschöpft und mehr als dankbar, sein Leben anderen anzuvertrauen; vielleicht gingen sie verantwortungsvoller damit um als er selbst.
    Bald konnte er eine Tunnelöffnung ausmachen, die hinaus auf das offene Meer führte. Noch immer hing ein samtiger Nachthimmel über der Lagune, aber die Sterne spendeten genug Licht, um die Wasseroberfläche mit hellen Punkten zu sprenkeln und ein überwältigendes Gefühl von Weite zu vermitteln. Ein frischer Nachtwind trieb ihnen über die See entgegen und drang in das Labyrinth der Tunnel ein. Es fiel jetzt leichter durchzuatmen.
    Gemächlich schob sich der Schildkrötenpanzer aus der Tunnel öffnung. Vor ihnen, einige hundert Meter entfernt, erhob sich Venedigs Friedhofsinsel San Michele aus der dunklen Wasserwüste. Die ockerfarbene Mauer, die das eckige Eiland umschloss, wirkte im Eislicht der Sterne grau und schmutzig, als hätte man sie aus den Gebeinen jener errichtet, die auf der Insel begraben lagen. Seit jeher wurden hier die Toten bestattet, tausende und abertausende von Namen eingraviert in Grabsteine und Urnenfächer.
    In der Schwärze über der Insel schwebte lautlos ein Sammler.
    Dario stieß einen heiseren Fluch aus. Er war der Einzige, der überhaupt einen Ton zu Stande brachte. Sogar Aristides Selbstgespräche verstummten.
    Der Sammler schnitt ein dunkles Dreieck in das Diadem der Sternbilder. Kolossal und bedrohlich hing die mächtige Pyramide ein paar Dutzend Meter über der Insel.
    Bei Tage hätten gewiss Sonnenbarken sie umschwärmt, doch jetzt herrschte Dunkelheit, und ohne Licht konnten die Barken nicht aufsteigen.
    Die Meerjungfrauen schoben den Schildkrötenpanzer ostwärts, deutlich schneller als im Irrgarten der Tunnel und Kanäle. Der

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