Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
wirklich ein Mensch sind.«
Humor funkelte in seinen Augen, als er zu ihr herabsah. »Hast du denn Zweifel, dass ich ein Mensch bin?«
»Ich weiß es nicht.« Das war aufrichtig. »Gerade eben erst habe ich Gestaltwandler gesehen, und sie -«
»Dann hast du auch gesehen, wie erbärmlich schlecht sie einen Menschen nachahmen können.«
»Wie wär’s dann mit Magie?«
»Ich bin kein Magier, nur ein Wissenschaftler.«
»Wie der Chirurg?«
Er zuckte mit den Achseln. »Wenn du so willst.«
»Dann verraten Sie mir, wie Sie heißen.«
Er hob lächelnd beide Hände, so als bliebe ihm gar keine Wahl, als vor ihrer Beharrlichkeit zu kapitulieren. Er räusperte sich - dann verriet er ihr seinen Namen.
Merle blieb stehen. Mit offenem Mund starrte sie ihn an. »Im Ernst?«
Die Dunstschwaden verhinderten, dass sein Lachen in der Ferne widerhallte. »Ich bin zwar schon eine ganze Weile hier unten, aber meinen Namen habe ich nicht vergessen, das kannst du mir glauben.«
»Burbridge?«, wiederholte sie. »Professor Burbridge?«
»Sir Charles Burbridge, Ehrenvorsitzender der National Geographic Society, Erster Explorer Ihrer Majestät der Königin, Entdecker der Hölle und ihr erster und wohl auch einziger Kartograph. Professor der Geographie, Astronomie und Biologie. Und ein alter Mann, fürchte ich.«
Merle atmete zwischen zusammengebissenen Zähnen aus. Es klang wie ein Pfeifen. »Sie sind Professor Burbridge!«
Er lächelte, nun beinahe ein wenig verlegen. »Und noch einiges mehr als das«, sagte er mysteriös. Dann ging er abermals weiter, diesmal ohne sie zum Mitkommen aufzufordern. Er wusste auch so, dass sie ihm folgen würde.
Merle trottete wortlos neben ihm her, während er sich mit der Hand Staub vom linken Jackenärmel klopfte. Kopfschüttelnd sagte er: »Weißt du, man kann diesen Wesen beibringen, das alles hier zu bauen, ganze Städte, Dampfmaschinen und Fabriken - aber man ist zum Scheitern verurteilt, wenn man versucht, ihnen etwas so Grundlegendes wie Sinn für Mode zu vermitteln. Sieh dir das hier an!« Er hielt ihr den Ärmel hin, und sie musste sich zwingen, genauer hinzuschauen. »Siehst du’s?«, fragte er. »Kreuzstich! Sie nähen ein solches Kleidungsstück mit Kreuzstich! Absolut unverzeihlich.«
Merle dachte an die Kreaturen im Herzhaus. Kreuzstich. Sie schauderte. »Wo bringen Sie mich hin?«
»Zum Steinernen Licht.«
»Was ist das?« »Das wirst du schon sehen.«
»Ist Vermithrax dort?«
Er lächelte wieder. »Das sollte er jedenfalls. Vorausgesetzt, er hat diese Tölpel von Wächter nicht genauso ausgetrickst wie dein anderer Freund.« Ein Grinsen. »Aber ich denke nicht.«
Schweigend stiegen sie weitere Treppen hinunter, folgten endlosen Stegen. Merle hatte das Gefühl, dass sie bald die ganze Kuppel durchquert haben mussten. Doch egal, wohin sie auch blickte, nirgends sah sie die gewölbte Felswand; sie waren noch immer irgendwo im Zentrum des Lichtdoms. Auch das Herzhaus war über ihnen im Dunst verschwunden.
Das Steinerne Licht.
Sie bekam eine Gänsehaut, ohne zu verstehen, weshalb.
Noch immer wollte sie ihn um die Hilfe bitten, die sein Bote den Venezianern angeboten hatte, wollte ihre Mission erfüllen - aber sie hatte das Gefühl, als ob es längst nicht mehr darum ging. Nicht um Venedig. Nicht um sie.
Sind wir wirklich deshalb hergekommen?, fragte sie in Gedanken und bekam keine Antwort. Die Königin war auffallend still geworden, seit die Lilim Merle in ihre Gewalt gebracht hatten, beinahe als fürchtete sie, jemand könne auf sie aufmerksam werden. Aber war das der einzige Grund?
»Der Chirurg«, sagte Merle nach einer ganzen Weile, »kann er das wirklich? Einem Menschen ein Herz aus Stein einsetzen?«
»Ja, das kann er.«
»Warum tut er das?«
»Weil ich es ihm befohlen habe.«
Merles Magen zog sich zusammen, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Sie war ihm und seiner Freundlichkeit auf den Leim gegangen. Es war an der Zeit, sich zu erinnern, wer er war und was er hier unten darstellte.
»Der Bote, den ich euch hinauf auf die Piazza San Marco gesandt habe«, sagte er im Plauderton, »der hatte ein Herz aus Stein. Eines der ersten, das tatsächlich funktioniert hat. Und viele andere, denen ich vertraue, genauso. Der Stein macht es leichter, sie zu steuern.«
»Sie haben keinen eigenen Willen mehr?«
»Nicht wie du und ich. Aber es ist ein wenig komplizierter.«
»Warum das alles? Die Lilim scheinen Ihnen doch auch so zu gehorchen. Oder hat jeder von ihnen
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