Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
meiner Brust ... etwas, das an mir zerrt und zieht wie an einem Strick." Ihre Spiegelaugen wandten sich ihrer Freundin zu wie das Signalfeuer eines Leuchtturms: silbriges Licht hinter Glas. „Ich versuche, mich dagegen zu wehren. Aber ich weiß nicht, wie lange ich das noch schaffe."
„Und du kannst dich an alles erinnern, was in der Pyramide passiert ist?" Merle hielt Junipas Hand und streichelte sie sanft. Sie saßen im hintersten Winkel des Verstecks, das sich die Zarenspione eingerichtet hatten.
Junipa schluckte. „Ich weiß, dass ich versucht habe, dich aufzuhalten. Und dass wir ... dass wir uns geschlagen haben." Sie schüttelte beschämt den Kopf. „Es tut mir so Leid."
„Du konntest doch nichts dafür. Das war Burbridge."
„Nicht er", widersprach Junipa. „Das Steinerne Licht. Professor Burbridge steht genauso unter seinem Bann wie ich, jedenfalls solange er da unten ist. Dann ist er nicht mehr der Wissenschaftler von früher, sondern nur noch Lord Licht." „Und hier oben ist es für dich besser?"
Junipa überlegte kurz, ehe sie die richtigen Worte fand. „Es fühlt sich schwächer an. Viel eicht weil es selbst Stein ist und das Gestein der Erdkruste nicht durchdringen kann. Zumindest nicht völlig. Aber es ist nicht weg. Es ist immer bei mir, die ganze Zeit. Und manchmal tut es ziemlich weh."
Merle hatte nach dem Aufstieg aus der Hölle die Narbe auf Junipas Brust gesehen, den Schnitt, durch den Burbridge ihr ein neues Herz hatte einsetzen lassen - einen Splitter des Steinernen Lichts. In ihrem Brustkorb ruhte er jetzt kalt und reglos und hielt sie am Leben, wie es früher ihr echtes Herz getan hatte, einem glühenden, funkelnden Diamanten gleich. Er heilte ihre Wunden innerhalb kurzer Zeit, und er verlieh ihr Kraft, wenn sie erschöpft war. Aber er versuchte auch, sie unter seinen Einfluss zu zwingen.
Wenn Junipa sagte, dass es wehtat, dann meinte sie damit nicht den Schmerz der Operation, nicht die Narbe. Sie meinte den Drang, Merle ein weiteres Mal zu verraten. Den Kampf, den sie gegen sich selbst führte, die Zerrissenheit zwischen ihrem sanften Ich und der eiskalten Macht des Steinernen Lichts.
Und sosehr der Gedanke Merle schmerzte: Sie musste Acht geben auf das, was Junipa tat. Es war möglich, dass sie ihnen ein zweites Mal unvermittelt in den Rücken fiel.
Nein, nicht sie, dachte Merle verbittert. Das Steinerne Licht. Der gefallene Morgenstern im Zentrum der Hölle. Luzifer.
Sie zögerte einen Moment, dann sprach sie aus, worüber sie schon lange nachgedacht hatte. „Was du da gesagt hast, in der Pyramide ..."
„Dass Burbridge behauptet, dein Großvater zu sein?"
Merle nickte. „Weißt du, ob das stimmt?"
„Er hat's jedenfalls gesagt."
Merle blickte zu Boden. Sie öffnete die Knopftasche ihres Kleides und zog den Wasserspiegel hervor, strich mit den Fingerspitzen über den Rahmen. Ihre andere Hand tastete nach dem Hühnerfuß, der jetzt an einer Schnur um ihren Hals baumelte, spielte gedankenverloren mit den kleinen, spitzen Krallen.
„Mehr Suppe?", fragte eine Stimme hinter ihnen.
Die beiden Mädchen drehten sich um. Andrej, der Anführer des zaristischen Spionagetrupps, hatte sich die graue Farbe notdürftig vom Gesicht gewaschen und trug nur noch einen Teil seiner Mumienrüstung. Er war ein harter, verbissener Mann, aber die Anwesenheit der Mädchen lockte eine Freundlichkeit in ihm zu Tage, die selbst seine vier Gefährten zu erstaunen schien.
Noch immer standen die Männer auf der anderen Seite des niedrigen Raumes rund um Vermithrax, in einer Hand ihre hölzernen Suppenschüsseln, die andere immer wieder nach dem glühenden Körper des Obsidianlöwen ausgestreckt.
Sie wussten nicht, dass er ins Steinerne Licht gestürzt war. Im Gegensatz zu Junipa hatte es keine Macht über ihn gewonnen. Merle fand das sonderbar, aber bislang hatte sie nichts Beunruhigendes beobachten können. Vermithrax war seither noch stärker, sogar ein wenig größer als zuvor, doch abgesehen von der lavaartigen Glut seines Körpers hatte er sich nicht verändert. Er war der alte, gutmütige Vermithrax, der jetzt, trotz aller Sorge um sein Volk und seinem Hass auf Seth, die staunende Aufmerksamkeit genoss, die die Zaristen ihm schenkten. Er sonnte sich in ihren Fragen, zaghaften Berührungen und der Ehrfurcht in ihren Gesichtern. Sie alle hatten von den steinernen Löwen Venedigs gehört, auch von den wenigen, die fliegen konnten. Dass aber einer dieser Löwen zu sprechen vermochte wie ein
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