Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
Überraschung, dann hörten sie ein schrilles Knirschen, als der massige Sphinxkrieger vom eigenen Schwung gegen das Glas geschleudert wurde. Ein Riss erschien für einen Augenblick im Inneren der Spiegelwelt, dann erlosch er wie ein Bleistiftstrich, den jemand von oben nach unten ausradiert.
Merle war außer Atem. Die Gewissheit, wie knapp sie dem Tod entronnen waren, machte sich erst allmählich in ihr breit. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, hart und stechend.
Junipas Spiegelaugen blieben ausdruckslos, aber ihre Miene verriet, wie wütend sie war. „Ich hab dir doch gesagt, du sollst bei mir bleiben! Das war ziemlich knapp!"
„Ich dachte, ich kann vielleicht noch jemandem helfen."
Junipa sah aus, als wollte sie etwas Zorniges erwidern, aber dann zerflossen ihre Züge zu ihrer früheren Sanftmut. „Ja. Natürlich." Sie schenkte Merle einen aufmunternden Augenaufschlag. „Tut mir Leid."
Sie lächelten einander scheu an, dann nahm Junipa Merle bei der Hand. Gemeinsam liefen sie weiter.
Gleich darauf hatte Merle erneut das Gefühl für ihre Richtung verloren und musste sich auf Junipas Orientierungssinn verlassen. Hin und wieder blieben sie stehen. Junipa schaute sich um, beinahe witternd wie ein Raubtier auf der Suche nach Beute, berührte ein-, zweimal eine Spiegelscheibe und eilte dann weiter.
„Hier!", sagte sie schließlich und deutete auf einen Spiegel. Merle kam es vor, als glänze er ein wenig heller als die anderen, in einem gelbroten, feurigen Licht.
„Das ist er! Das ist Vermithrax!"
„Warte. Lass mich erst nachsehen." Junipa trat vor, bis ihre Nasenspitze das Glas berührte. Als sie das Wort flüsterte, beschlug die Oberfläche vor ihren Lippen. Sie schob ihr Gesicht gerade weit genug hindurch, um auf die andere Seite zu blicken, tauchte durch ihren weißen Atem auf dem Glas wie in einen Krug frischer Milch. Merle hielt ihre Hand und hatte das Gefühl, dass Junipas Finger erkalteten, je länger sie so verharrte, teils in der Spiegelwelt, teils im Eisernen Auge.
Sie flüsterte den Namen ihrer Freundin.
Eine wellenförmige Erschütterung lief durch den Spiegel, als Junipa das Gesicht zurückzog. „Sie sind da. Alle vier."
„Seth auch?"
„Ja. Er kämpft an Andrejs Seite."
„Wirklich?" Die Vorstellung überraschte sie.
Junipa nickte. „Was tun wir jetzt?"
Wir müssten zu ihnen gehen, sagte sich Merle. Müssten ihnen helfen. Müssten die Sphinxe aufhalten, ihren Plan zu vollenden. Aber wie? Sie mochte die Enkelin des Teufels, die Tochter einer Sphinx sein - aber sie war doch nur ein Mädchen von vierzehn Jahren. Jeder Sphinx würde sie mit einem einzigen Schlag erledigen. Und sie wollte nicht, dass Junipa etwas zustieß.
„Ich weiß, was du denkst", sagte Junipa.
Merle starrte an ihr vorbei auf den Spiegel und auf das Licht dahinter, auf die zuckenden Formen, zu verzerrt, um Gestalten darin zu erkennen. Sie wusste, dass Vermithrax und die anderen dort drüben um ihr Leben kämpften, und doch drangen keine Geräusche über die Schwelle der Spiegelwelt. Kein Waffengeklirr, keine Schreie, kein Keuchen und verbissenes Stöhnen. Auf der anderen Seite hätte die Welt untergehen können, aber hier hinter den Spiegeln wäre es nichts weiter gewesen als ein buntes Feuerwerk aus Farben und Silber.
„Etwas ist anders als vorhin", sagte Junipa.
„Was?"
Junipa ging in die Hocke, legte auf Bodenhöhe eine Hand ans Glas, flüsterte das Wort und griff hindurch. Als sie die Finger zurückzog, waren sie zur Faust geballt. Sie hielt sie Merle vors Gesicht und öffnete sie.
Merle starrte auf das, was sie vor sich sah. Streckte dann einen Zeigefinger aus und berührte es.
„Eis", flüsterte sie atemlos.
„Schnee", sagte Junipa. „Er ist nur so hart, weil ich ihn zusammengepresst habe."
„Aber das bedeutet, dass Winter hier ist! Hier im Eisernen Auge!"
„Er lässt es sogar in Gebäuden schneien?" Junipa runzelte die Stirn. Merle hatte ihr von Winter und der Suche nach seiner Geliebten Sommer erzählt. Aber es fiel ihr immer noch schwer, sich eine Jahreszeit aus Fleisch und Blut vorzustellen, die durch die Spiegelgänge des Auges streifte.
Merle traf ihre Entscheidung. „Ich wil jetzt da rüber!"
Junipa warf den Schnee zu Boden, wo er sich gleich nach dem Aufprall in Wasser auflöste. Sie seufzte leise, nickte aber schließlich. „Irgendwas müssen wir ja tun." Nach kurzem Nachdenken fügte sie hinzu: „Aber geh nicht ganz durch den Spiegel. Solange du einen Arm oder einen Fuß auf
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