Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
Junipa, die sie nun schon zum zweiten Mal verloren hatte, aber sie tat ihr Möglichstes, sich auf den sterbenden Mann zu konzentrieren. Unwirklich, dröhnte es wieder und wieder durch ihren Verstand. Alles ist so unwirklich.
Andrejs freie Hand packte ihre Schulter, so fest, dass es wehtat, und zog sie nach vorn. Die Finger kletterten an ihren Hals. Als Merle gerade zurückschrecken wollte, bekam er das Lederband zu fassen, an dem sie den Hühnerfuß trug. Das Zeichen der Baba Jaga. Das Signum seiner Göttin.
Merle hätte sich gerne die Tränen aus den Augen gewischt, aber sie wusste, dass sie ihn jetzt nicht loslassen durfte. Ganz gleich, was um sie herum geschah: Andrej hatte es verdient, in Frieden zu sterben. Er war ein mutiger Mann wie seine Gefährten auch; für die Mädchen und den Löwen war er das Risiko eingegangen, seine Tarnung aufzugeben. Vermithrax wäre mit dem ersten Sphinx allein fertig geworden, aber Andrej hatte ihn trotzdem für sie erschlagen. Vielleicht, weil er froh gewesen war, nach all den Monaten im Eisernen Auge wieder einmal lebenden, atmenden Menschen zu begegnen.
Andrej klammerte sich mit einer Hand an den Hühnerfuß an ihrem Hals, und dabei murmelte er Worte auf Russisch, vielleicht ein Gebet, vielleicht etwas ganz anderes. Mehrmals fiel ein Wort, das Merle für den Namen einer Frau oder eines Mädchens hielt. Seine Tochter, schoss es ihr durch den Kopf. Er hatte sie erwähnt, ganz kurz, nachdem er die drei in das Versteck geführt hatte. Seine Tochter, die er viele tausend Kilometer entfernt zurückgelassen hatte.
Dann starb Andrej. Mit zitternden Händen musste sie seine Finger von dem Anhänger lösen.
Vermithrax schnaubte leise.
„Wir müssen weg!", sagte er schließlich, und Merle kam es vor, als umschrieben diese drei Worte vielleicht am besten ihre Reise. Fort aus Venedig, fort aus Axis Mundi, eine ewige Flucht. Dabei schien ihr Ziel immer weiter in die Ferne zu rücken.
Vermithrax sprach weiter. „Die Sphinxe werden Alarm schlagen."
Merle nickte gedankenverloren. Sie kreuzte Andrejs Hände auf seiner Brust, ohne zu wissen, ob diese Geste in seiner Heimat verstanden wurde. Sie strich leicht mit dem Handrücken über seine Wange, bevor sie aufstand.
Vermithrax sah sie aus seinen riesigen Löwenaugen an. „Du bist sehr tapfer. Viel tapferer, als ich geglaubt habe."
Sie schluchzte auf und begann wieder zu weinen, aber diesmal bekam sie sich rasch in den Griff.
„Was ist mit Junipa?"
„Wir können ihr nicht folgen."
„Das weiß ich. Aber wir müssen doch irgendwas -"
„Wir müssen von hier verschwinden! Schnel ." In Momenten wie diesen vergaß Merle manchmal, dass sie nicht allein in ihren Gedanken war. Als die Königin unvermittelt das Wort ergriff, schrak sie zusammen, als stünde mit einem Mal jemand hinter ihr und brüllte ihr ins Ohr. „Vermithrax hat Recht.
Wir müssen verhindern, dass sie den Sohn der Mutter zurück ins Leben rufen."
„Der Sohn der Mutter kann mir gestohlen bleiben!", rief Merle wütend aus, sodass auch Vermithrax es hörte. Er hob verwundert eine Augenbraue. „Seth hat Junipa entführt, und im Augenblick ist mir das wichtiger als irgendwelche Sphinxgötter und ihre Mütter!"
Das war deutlich, hoffte sie. Aber die Königin ließ sich nicht beeindrucken. Wenn es etwas gab, auf das sie sich verstand, dann war es Beharrlichkeit. Nervtötende, gnadenlose Beharrlichkeit. „Deine Welt wird untergehen, Merle. Sie wird untergehen, wenn du und ich nicht etwas dagegen unternehmen."
„Meine Welt ist schon untergegangen", sagte sie traurig. „In dem Augenblick, als wir uns begegnet sind." Sie meinte es nicht sarkastisch, und es war keine Bösartigkeit in ihrer Stimme. Jedes Wort war aufrichtig, war ehrlich empfunden: Ihre Welt - eine neue, eine unverhoffte, aber ihre eigene - war Arcimboldos Werkstatt gewesen, mit allem Für und Wider, mit Dario und den anderen Raufbolden, aber auch mit Junipa und Unke und einem Platz, der ganz allein ihr gehört hatte. Das Auftauchen der Königin hatte dem allen ein Ende gesetzt.
Die Königin schwieg einen Moment, dann durchbrach sie abermals die dumpfe Stille in Merles Schädel, eine Stille wie im Herzen eines Orkans. „Gib nicht mir die Schuld. Nach dem Angriff der Ägypter wäre nichts mehr gewesen, wie es einmal war."
Merle wusste genau, dass sie die Falsche verantwortlich machte. „Tut mir Leid", sagte sie und meinte es doch nicht ernst. Sie konnte nicht über ihren eigenen Schatten springen,
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