Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
ihre Züge, jede ihrer Regungen. Junipa hielt Merles Hand so fest wie zuvor, als könnte sie ihr dadurch irgendwie beistehen, ihr helfen, all das Neue zu begreifen und zu verarbeiten.
Die Erkenntnisse und das Geständnis der Königin hatten sie überrollt, aber sie brachte doch die Kraft auf, sich auf das Wichtigste zu konzentrieren: auf die Königin, auf Junipa und auf den Sohn der Mutter.
Und dann war da immer noch Burbridge, der ihr wie ein Häuflein Elend gegenüberstand, ein alter Mann, der aussah, als benötigte er dringend einen Stuhl, weil er sich kaum noch allein auf den Beinen halten konnte.
„Ihr müsst gehen", sagte er. „Das Steinerne Licht toleriert es manchmal, wenn ich mich hierher zurückziehe. Aber nicht oft, und gewiss nicht so lange wie heute."
Merle löste sich zaghaft von Junipa, trat dann entschlossener vor und reichte ihm zum ersten Mal die Hand. Er ergriff sie, und Tränen erschienen in seinen Augen.
„Was wird es tun?", fragte sie leise. „Mit Ihnen ... mit dir?"
„Ich bin Lord Licht. Das werde ich immer sein. Es wird vielleicht diese Spiegel hier zerstören. Aber das ist nicht schlimm. Wir sind uns begegnet, und ich brauche sie nicht mehr. Ich habe dir gesagt, was es zu sagen gab ... oder wenigstens das Wichtigste. Da sind andere Dinge, die ich fühle und denke und
-" Er brach ab, schüttelte den Kopf und setzte neu an. „Ich kann mich dem Licht nicht mehr lange widersetzen. Und es wird seinen Griff verstärken." Die Tränen lösten sich jetzt aus seinen Augen und rannen ihm über die Wangen. „Fal s wir uns jemals Wiedersehen, und Gott bewahre dich davor, Merle ...
Falls wir uns Wiedersehen, werde ich endgültig zu dem geworden sein, dem du in der Hölle begegnet bist. Der Mann, der zuließ, dass Junipas Herz ausgetauscht wurde. Der das Volk der Lilim wie ein Despot regiert. Und der seinen freien Willen dem Steinernen Licht unterworfen hat."
Merles Kehle war wie zugeschnürt. „Du könntest mit uns kommen."
„Ich bin zu alt", sagte er kopfschüttelnd. „Ohne die Kraft des Lichts werde ich sterben."
Das ist es doch, was du willst, oder?, dachte Merle.
Aber sie sprach es nicht aus. Der Gedanke tat weh, auch wenn sie es sich nicht eingestehen mochte.
Sie wollte nicht, dass er starb. Aber sie wollte auch nicht, dass er für immer zu dem wurde, was die übrige Menschheit längst in ihm sah: zum Teufel, zu Satan persönlich.
Er schien zu erraten, was sie beschäftigte. „Das Licht hält meine Seele umklammert. Ich bin zu schwach, um freiwillig in den Tod zu gehen. Dafür habe ich zu lange ausgehalten, zu lange gekämpft.
Ich könnte dich darum bitten, aber das wäre grausam und -"
„Ich kann das nicht!"
„Ich weiß." Er lächelte und sah dabei seltsam weise aus. „Und vielleicht ist es das Beste so. Jede Welt braucht ihren Teufel, auch diese hier. Sie braucht das Schreckgespenst des Bösen, um zu erkennen, warum es so wichtig ist, das Gute zu verteidigen. In gewisser Weise erfülle ich nur meine Pflicht ... sogar das Steinerne Licht tut das. Und irgendwann wird man die Hölle wieder als das fürchten, was sie all die Jahrtausende über gewesen ist: ein Phantom, etwas, woran man vielleicht glaubt, das man aber nicht für real hält. Legenden und Mythen und verklärte Gerüchte, weit, weit weg vom Alltag der Menschen."
„Aber nur, wenn es uns gelingt, die Sphinxe aufzuhalten", sagte Junipa.
„Das ist die Voraussetzung." Burbridge zog Merle an sich und umarmte sie. Sie erwiderte die Geste ohne nachzudenken. „Das hier unten ist nicht deine Geschichte, mein Kind. Du bist die Heldin der Geschichte dort oben. In der Hölle gibt es keine Helden. Nur jene, die gescheitert sind. Nicht Lord Licht ist dein Feind. Deine Gegner sind oben: die Sphinxe, der Sohn der Mutter. Falls es dir gelingt, sie aufzuhalten, wird es eine lange Zeit dauern, ehe das Steinerne Licht abermals Macht an der Oberfläche gewinnt. Wenn seine Getreuen dort oben vernichtet sind, ist es in eurem Teil der Welt geschlagen. Und diesen hier, den vergesst ihr am besten wieder. Für ein paar hundert oder ein paar tausend Jahre. Das Licht und ich ... Lord Licht, sollte ich sagen ... wir haben genug mit der Hölle zu tun, um uns um die Oberwelt zu kümmern." Er löste seine Umarmung, aber sein Blick hielt weiterhin den ihren fest. „Das ist jetzt allein eure Aufgabe."
„Die Lilim werden die Menschen nicht angreifen?"
„Nein. Das haben sie nie. Nicht als Armee, nicht um ihre Länder zu erobern. Es gab
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