Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
weit entfernt von der Hauptinsel, stand eine finstere Säule am Himmel. Schwarzer Qualm stieg von den Feuern auf, die Tag und Nacht dort loderten. Mit Fährschiffen brachte man die zerfallenen Mumienkrieger dorthin und legte sie auf Scheiterhaufen zur letzten Ruhe. Der Wind stand günstig und trieb die Asche hinaus auf die See.
Über den Dächern und Türmen der Stadt flogen Gardisten ihre Runden, auf stummen Steinlöwen mit weit gespannten Schwingen. Die Männer beobachteten wachsam das Treiben in den Gassen; sie sorgten dafür, dass auch in den abgelegensten Hinterhöfen und Gärten keine Mumie unentdeckt blieb.
Vom Himmel herab dirigierten sie mit lauten Rufen die Aufräumtrupps, Reparaturmannschaften und Soldaten am Boden. Dort unten waren alle Unterschiede aufgehoben: Ob Uniformierte oder Handlanger, ob Fischer oder Händler, alle waren mit der Säuberung der Gassen beschäftigt, räumten die Reste der Mumienkrieger aus Häusern und von Plätzen und bauten die vereinzelten Barrikaden ab, rußgeschwärzte Zeugen des spärlichen Widerstands gegen das Imperium.
Auf der breiten Mündung des Canal Grande, Venedigs Hauptstrom, herrschte Betrieb wie früher nur an Festtagen. Dutzende Boote und Gondeln tummelten sich auf dem Wasser wie Ameisen am Fuß ihres Hügels, Transporte in diese und in jene Richtung. Überall Gebrüll und Rufe, und manchmal sogar, endlich wieder, vereinzelter Gesang vom Heck polierter Gondeln.
Am Ufer der Kanalmündung, an der Hafenmauer des Zattere-Kais, standen Merle, Junipa und Lalapeja. Sie winkten dem Ruderboot hinterher, das sie an Land gebracht hatte. Tiziano und Aristide legten sich in die Riemen, während Dario und Unke zum Abschied mit ausgestreckten Armen grüßten.
Der Seewind riss ihnen die Worte von den Lippen. Das Unterseeboot lag weit draußen, noch jenseits des Rings aus Galeerenwracks, aber keine der drei wandte sich ab, ehe die kleine Jolle gänzlich außer Sicht war. Und selbst dann blieben sie noch stehen und schauten über das Wasser, dorthin, wo ihre Freunde verschwunden waren.
„Begleitet ihr mich noch ein Stück?", fragte Lalapeja schließlich.
Merle sah Junipa an. „Wie fühlst du dich?"
Das bleiche Mädchen strich mit einer Hand über die Narbe auf der Brust und nickte. „Im Moment spüre ich nichts. Es ist, als hätte sich das Steinerne Licht vorerst zurückgezogen. Vielleicht um die Niederlage der Sphinxe zu verdauen."
Lalapeja, die ihren zierlichen Frauenkörper in ein sandfarbenes Kleid aus dem Fundus der Piraten gehül t hatte, führte sie durch eine Schneise tiefer in das Gewirr der Gassen und Plätze. „Das Licht wird wohl eine Weile Ruhe geben. Schließlich hat es alle Zeit der Welt."
Sie überquerten schmale Brücken, enge Höfe und auf einem Fährboot den Canal Grande. Merle staunte, wie schnell die Aufräumarbeiten vorangingen. Die Spuren der dreißigjährigen Belagerung würden sich nicht innerhalb weniger Tage beseitigen lassen, doch alle Anzeichen der Machtübernahme des Imperiums waren bereits aus dem Stadtbild getilgt. Merle fragte sich, was aus dem Leichnam des Pharaos geworden war. Vermutlich hatte man ihn gemeinsam mit den Mumien ins Feuer geworfen.
Unterwegs erzählte ihnen eine junge Wasserträgerin, dass der Stadtrat wieder die Regierungsgeschäfte übernommen hatte. Viele Räte waren vom Pharao hingerichtet worden, darunter die Verräter, und jetzt bemühten sich ihre Nachfolger, die Glaubwürdigkeit der Regierung wiederherzustellen. Es hieß, sie hätten bereits den Rat der Fließenden Königin eingeholt, die mit dem Untergang des Imperiums in die Lagune zurückgekehrt sei; alle Entscheidungen des Stadtrats seien die ihren, man folge allein ihrem Willen und wolle sie auf keinen Fall erzürnen. Daher läge es im Interesse der Bevölkerung, allen Anordnungen Folge zu leisten und die Herrschaft der Räte nicht infrage zu stellen. Die junge Frau strahlte vor Zuversicht. Solange die Fließende Königin über Venedig wache, habe sie keine Angst. Sie und die Räte würden schon dafür sorgen, das alles wieder gut werde.
Merle, Junipa und Lalapeja nickten höflich, bedankten sich für die Auskunft und setzten rasch ihren Weg zum Palazzo der Sphinx fort. Keiner brachte es übers Herz, der jungen Frau die Wahrheit über die Königin zu sagen. Und welchen Sinn hätte es auch gehabt? Niemand hätte ihnen Glauben geschenkt.
Niemand wollte ihnen glauben.
Im Palazzo fanden sie einen Großteil der Jungen vor, die Serafin vom Anschlag auf den
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