Die Merowinger - Chlodwigs Vermächtnis
Opfer eines Anschlags geworden.
Er sah sich nach einem Gegenstand um, mit dem er sich notfalls verteidigen konnte. Aber er hatte nicht einmal seinen Hirtenstab bei sich, von dem er sich selten trennte. Den hatte er aber, als er gekommen war, im Vestibül stehenlassen.
Die Gestalt war jetzt nahe, sie hatte die kleine Steinbank erreicht, von der er aufgesprungen war. Dort blieb sie aber stehen und bückte sich plötzlich, um das Buch aufzuheben. Und da sprach sie ihn auch schon an.
Als er die Stimme vernahm, erschrak er zum zweiten Mal, wenn auch nicht mehr so heftig. Es war eine weibliche Stimme, die das Lateinische mit einem weichen griechischen Akzent sprach.
»Verzeih, ehrwürdiger Vater, dass ich dich störe und so kühn zu dir vordringe. Ich sagte deinem kleinen Zerberus, wir beide seien gute alte Bekannte.«
Im nächsten Augenblick war der Schleier zurückgeschlagen, der das Gesicht fast verhüllt hatte. Es war das schöne Gesicht einer Frau von etwa fünfunddreißig Jahren. Ein Gesicht, das er lange nicht gesehen hatte, an das er sich aber nur zu gut erinnerte.
»Du bist es?«, rief er. »Scylla, die Witwe des Ogulnius?«
»Still!«, sagte sie rasch. »Sprich leise! Vermeide um Gottes willen, dass wir gehört werden. Und nenne nicht diesen Namen. Ich heiße Donata. Mich schickt dein Amtsbruder, der Bischof von Vienne.«
»Wie? Avitus schickt dich? Aber wie kommt es, dass du mit ihm …«
»Dass ich mit ihm bekannt wurde? Ich werde es dir gern sagen. Es ist eine traurige Geschichte. Ich habe viel erlebt und gelitten. Oh!« Sie hatte das Buch aufgeschlagen, und lächelnd blätterte sie nun darin. »Gedichte von Catull? Wie ich diese Verse liebe und wie lange ich sie entbehren musste! ›Liebesgöttin, der blauen See entstiegen, die du Herrin bist von Idalion …‹ Ihr heiligen Männer habt Geschmack.«
»Das geht dich nichts an!«, sagte der Bischof unwirsch, um seine Verlegenheit zu überspielen. »Ich erhole mich, indem ich Verse lese. Der Inhalt ist unwichtig, wenn sie nur gut gearbeitet sind.« Er trat auf die Besucherin zu und nahm ihr das Buch aus der Hand. »Doch nun erkläre mir endlich, wie du hierherkommst! Ich sah dich zum letzten Mal vor … ja, vor elf Jahren. Kurz bevor du mit Syagrius nach Paris flohst.«
»Erlaube zunächst, dir das zu geben«, sagte die Griechin und zog eine Papyrusrolle aus dem Gewand.
Remigius erkannte das Siegel seines Amtsbruders und erbrach es. Er setzte sich wieder auf die Bank und überflog den Brief, der nur aus wenigen Zeilen bestand. Avitus teilte ihm mit, dass er die Überbringerin des Schreibens, Donata, die bisher in einem Kloster bei Genf gelebt habe, mit einer hochwichtigen Botschaft an die Königin Chlotilde nach Soissons schicke. Er bat seinen Bruder Remigius, die fromme Frau (»die dir wahrscheinlich unter einem anderen Namen bekannt ist«) unter Wahrung höchster Diskretion der hohen Herrin vorzustellen. Das Weiteren forderte er ihn auf, ihr seinen Beistand zu gewähren und sie vor Angriffen und Verfolgung zu schützen.
»Sehr merkwürdig«, murmelte Remigius. »Wirklich … sehr merkwürdig. Also … du willst die Königin sprechen. Darf ich wissen, worin die hochwichtige Angelegenheit besteht?«
»Du bist misstrauisch«, sagte die Griechin Scylla, die sich nun Donata nannte. »Dafür habe ich Verständnis. Dieses Misstrauen muss ich dir nehmen, bevor du alles erfährst. Darf ich mich zu dir setzen?«
Der Bischof rückte ans Ende der kurzen Bank, und sie ließ sich neben ihm nieder. Ein arg zerkratzter Faun aus Bronze, der wohl schon mehr als hundert Jahre an dieser Stelle des Gartens tanzte, sah ihr grinsend über die Schulter. Sie seufzte, schlug unfromm die langen Beine übereinander, legte ihre kostbar beringte Hand aufs Herz und sagte:
»Ich werde vollkommen aufrichtig zu dir sein! Du wirst nichts als die Wahrheit von mir erfahren. Wenn du etwas Zeit für mich hast, sollst du meine Geschichte hören.«
»Wer von Avitus kommt, hat Anspruch, von mir gehört zu werden«, sagte der Bischof reserviert.
»Also höre«, begann die Griechin. »Wie Syagrius endete, der letzte römische Statthalter in Gallien, weißt du ja. Sein Kampf war aussichtslos, und ich will heute nicht mehr darüber streiten, ob er gerecht war oder nicht. Was habe ich damals durchmachen müssen, weil ich die ganzen Jahre treu zu ihm hielt! Unsere Flucht zu den Westgoten war ein Fehler, aber das konnten wir nicht voraussehen. Seinen Tod hat Alarich auf dem Gewissen,
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