DIE MEROWINGER: Letzte Säule des Imperiums
Weinvorräte nicht schonte, und so gerieten die Konviven bald in eine ausgelassene Stimmung. Sie vergaßen ihre traurige Lage und gaben sich ganz dem genussreichen Augenblick hin.
In der Halle traten Musikanten, Sänger und Akrobaten auf. Viele Gäste zog es allerdings nach dem schweren Mahl an die frische Luft. Sie flanierten auf den Terrassen und in den Gärten des weiträumigen Palastgeländes. Nicht wenige erklommen sogar die hohen Leitern zum Wehrgang der Festungsmauer. Es gab manchen Spaß, wenn sich die angeheiterten Damen in ihren kostbaren, mit Fett und Soße befleckten Seidengewändern Sprosse für Sprosse dort hinaufquälten, und wenn sie sich dann, auf ihre nicht weniger berauschten Begleiter gestützt, jeden Augenblick aufkreischend, über die tückischen Bohlen bewegten.
Der Lohn der Mühe und der Gefahr war die herrliche Aussicht auf die Ebene vor der Stadt, auf den Festplatz mit bunten Zelten und Buden und auf das Volk, das sich dort unten belustigte.
Die Damen lehnten sich an die Brustwehr, und einige Jüngere waren so übermütig, sich hinaufheben zu lassen und in schwindelnder Höhe Platz zu nehmen. Hier zeigten sie einander girrend und kichernd, was sie unten entdeckten. Diejenigen, die gute Augen hatten, folgten dem weiten Bogen der Aisne mit den Booten der Fischer und Händler oder einer kleinen Prozession, die einem Hügel mit einer Kapelle zustrebte. Und mancher Blick folgte auch der schnurgeraden Straße nach Norden, auf der in der Nähe der Stadt ein paar Reiter und Eselsgespanne unterwegs waren.
Doch weit hinten am Ende der Straße, am Horizont … was war das?
Ein etwa vierzehnjähriges Mädchen, das auf der Brustwehr hockte, streckte plötzlich den Arm aus und schrie: »Seht doch mal dort!«
Da hinten vom Waldrand rückte etwas heran, das aussah wie ein bewaffneter Haufen. Eine lange Kolonne von Männern zog dort die Straße entlang und kam näher. Es waren so viele, dass einzelne Gruppen sich vom Haupttrupp absonderten und links und rechts von der gepflasterten Piste über Wiesen und Äcker marschierten. Man konnte auch Reiter erkennen, die zwischen den Haufen hin- und hersprengten.
Wie viele waren es? Zweihundert? Dreihundert? Fünfhundert? Der Menschenstrom riss nicht ab, der dort hinten zwischen den Bäumen hervorquoll.
»Barbaren! O Jesus, hilf uns! Es sind Barbaren!« Eine Dame, die an der Brustwehr stand, stieß diesen Ruf aus. Ihr antwortete ein schrilles Echo aus weiblichen Kehlen, von verschiedenen Punkten der Festungsmauer.
Jetzt erst wurden die Wachen aufmerksam. Statt das Gelände zu beobachten, hatten sie mit den Mädchen gescherzt. Vom nächsten Wachturm ertönten Kommandos, und alle eilten an ihre Plätze.
»Das ist ja ein ganzes Heer!«, rief einer der Offiziere dort oben.
Tatsächlich fluteten die Haufen in immer breiter werdender Front heran. Das Band der Straße reichte längst nicht mehr, um alle aufzunehmen. Dort wurden jetzt auch Gespanne mit Planverdeck herangeführt. Ganze Reitertrupps schwärmten über die Uferwiesen des Flusses.
Man sah, dass die Vorderen rasch ausschritten, ein hohes Marschtempo vorgaben. Die Sonne stand bereits tief. Hunderte glänzende metallische Punkte – Helme, Lanzenspitzen, Schwertgriffe, Axtschneiden – reflektierten das Abendlicht.
Die vornehmen Besucher auf dem Wehrgang der Festungsmauer waren plötzlich sehr nüchtern, die frohe Stimmung war ihnen vergangen. Was sie sahen, erschreckte sie bis ins Mark – zu lebendig war bei den meisten noch die Erinnerung an anstürmende Barbarenmassen.
Während die einen wie gelähmt auf das Schauspiel in der Ebene starrten, brach bei den anderen die Panik aus. Alles drängte zu den Leitern. Man schob und stieß, und eine grauhaarige Dame glitt aus und stürzte vom Wehrgang in die Tiefe. Sie war sofort tot. Eine andere verlor das Bewusstsein und musste an einem Seil hinabgelassen werden.
Die munter gewordenen Wachen räumten den Wehrgang, Offiziere schnauzten Kommandos. Skorpione, leicht bewegliche Wurfmaschinen, wurden in Stellung gebracht.
Unterdessen war auch auf dem Festplatz das Nahen der Barbarenhaufen bemerkt worden. Alles floh und drängte durch das Tor hinter die Mauer. Buden und Zelte wurden in Eile abgerissen, Karren und Lasttiere beladen. Kinder irrten schreiend umher und suchten Väter und Mütter, die sie im Trubel verloren hatten.
Eine Zenturio der Palastwache stürzte in den kleinen Empfangssaal. Hierher hatte sich der Patricius mit seiner Familie, den Leuten
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