DIE MEROWINGER: Letzte Säule des Imperiums
seiner Umgebung und besonders vornehmen Gästen zurückgezogen. Er saß schon wieder am Spieltisch, gerötet, aufgeregt. In der Vorfreude eines Sieges knetete er die feuchten Hände. Sein Gegner war ein sabbernder, schnaufender Alter, der ihm als vir clarissimus et perfectissimus vorgestellt worden war, obwohl er seine Berühmtheit und Vollkommenheit längst eingebüßt hatte.
Der Alte wollte das Spiel gerade aufgeben, als der Zenturio sich zwischen den Zuschauern vordrängte und atemlos meldete: »Patricius! Von Nordosten zieht ein Barbarenheer heran! Es müssen Franken sein! Mindestens fünftausend, sechstausend … vielleicht mehr. Was befiehlst du? Sollen die Tore geschlossen werden?«
»Ach, du Esel!«, rief Syagrius. »Musst du mir jetzt das Spiel verderben? Ich stehe unmittelbar vor dem Triumph!«
In der Erwartung, dass man seine Empörung teilte, blickte er in die betroffenen, verstörten Gesichter ringsum – und erst jetzt schien er die Meldung zu begreifen.
»Barbaren? Franken? Sechstausend, sagst du? Was wollen die hier? Ich habe niemanden gerufen.«
»Sie sind höchstens noch eine Meile entfernt. Deine Befehle! Was sollen wir tun?«
»Eine Meile? Das ist ein Irrtum! Nein, ich hab sie nicht hergerufen. Ich brauche hier jetzt keine Hilfstruppen. Sie sollen umkehren! Ich befehle, dass sie umkehren und verschwinden!«
»Und wenn sie sich nicht dazu bewegen lassen? Sie sehen nicht aus, als ob sie in friedlicher Absicht kämen.«
»Nicht in friedlicher Absicht? Die Franken? Nein, nein, ausgeschlossen! Die räubern zwar mal im Grenzgebiet, aber niemals würden sie … Sechstausend, sagst du? Ihr übertreibt immer, weil euch das richtige Augenmaß fehlt. Wahrscheinlich sind es nur ein paar hundert. Vielleicht hat sich das jemand ausgedacht, um meine Gäste zu unterhalten. Ein Spiel mit der Angst! Aber wer war das? Ich finde das nicht sehr geschmackvoll … außerdem hätte man mich unterrichten müssen. Leunardus! Structus! Wo ist Structus? Man soll diesen Unfug unterbinden, damit wir ungestört unser Fest feiern können!«
Syagrius glaubte zunächst tatsächlich, seine Festordner hätten ihn und die Feiernden auf diese originelle Art überraschen wollen. Er fand das Augenblicke später seiner Stellung auch durchaus angemessen, nachdem ihn einer der Schmeichler an die gewaltigen Schlachten erinnert hatte, die die Kaiser früher in Arenen und auf Festplätzen nachstellen ließen. Aber schnell wurde klar, dass das da draußen kein Spiel sein konnte.
Leunardus und Structus reagierten bestürzt und lösten Alarm aus, nachdem sie den Aufmarsch der Franken von einem Wachturm aus beobachtet hatten.
Die Tore der Festung wurden geschlossen, die Wachen verstärkt. Alle Söldner der beiden in Soissons stationierten Legionen wurden in die Unterkünfte beordert. Unterdessen liefen Meldungen ein, die etwas mehr Klarheit brachten.
Man erkannte die Anführer der anrückenden Haufen. Es waren die Könige der Franken von Cambrai, Tongeren und Tournai – Ragnachar, Chararich, Chlodwig. Daraus ergab sich eine Erklärung, die weniger auf eine Gefahr als auf einen Irrtum hindeutete.
Structus hatte den erleichternden Einfall: Die Streitmacht der föderierten Franken, die sich in Bavai zum Marsch gegen die eindringenden Inselbarbaren gesammelt hatte, war durch einen Fehler bei der Befehlsübermittlung in die falsche Richtung gelenkt worden. Dergleichen kam vor und konnte verschiedene Ursachen haben.
Die am nächsten liegende war: Der zu den Franken gesandte Tribun mit seiner Kohorte war nicht pünktlich am Treffpunkt gewesen, um die Führung zu übernehmen (vermutlich rekrutierte er noch weitere Stämme), worauf sich die Franken ungeduldig in Bewegung gesetzt hatten. Und da ihnen noch der genaue Marschbefehl für ihren Kampfeinsatz fehlte, waren sie einfach hergekommen, um ihn sich von dem Mann zu holen, dem sie zu Treue und Waffenhilfe verpflichtet waren: dem Patricius Syagrius.
Rasch wurde ein außerordentlicher Rat einberufen, der sich diese Deutung zu eigen machte. Auch einige Emigranten zog der Patricius hinzu, im Kampf mit Barbaren erfahrene, wenn auch erfolglose Militärs.
Es kam jetzt natürlich darauf an, die fränkischen Heerhaufen recht schnell wieder loszuwerden. Sie nahmen schon die ganze Ebene vor der Stadt ein, und ihre Zahl wurde mittlerweile auf mehr als zehntausend geschätzt.
Der Patricius griff den Vorschlag auf, sofort eine Abordnung zu ihnen hinauszuschicken. Er bestimmte, dass Leunardus und
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