Die Messermacher (German Edition)
schüttere Haar hinter dem rechten Ohr etwas zur Seite. Ohne etwas zu sagen, ging sie zur anderen und schaute an derselben Stelle und hinter dem anderen Ohr nach. Dann nickte sie, richtete sich langsam auf und zeigte auf die vor ihr liegende Leiche.
„Das ist mein Opa“, bezeugte sie zittrig und fing dann endlich an zu weinen. Der Arzt schaute sich ebenfalls die Stellen an und bestätigte:
„Ihr Großvater hat ein großes Muttermal hinter dem rechten Ohr und der andere hat ein kleineres hinter dem linken. Daran hat sie ihn erkannt und somit können wir die Totenscheine ausstellen und die richtige Person an die Familien übergeben. Kennen Sie den anderen Mann?“
„Nein. Kennen wäre zu viel gesagt, aber Fräulein Angerer weiß, in welcher Kneipe er immer verkehrt hat und dort wird man wissen, wer er ist… äh… beziehungsweise - war“, erklärte Joska und versprach, die nötigen Informationen baldmöglichst zu liefern, denn jetzt musste er sich erst um die völlig aufgelöste Nora kümmern. Frau Hüftgold entließ sie dann auch und erlaubte ihnen, endlich nach Hause zu fahren.
36
Marianne holte auf der fast leeren Autobahn alles aus ihrem Porsche heraus, doch als sie an die Abzweigung kam, die sie so oft schon genommen hatte, zog es sie wie magisch auch heute in diese Richtung. Sie konnte sich nicht dagegen wehren und setzte wie automatisiert den Blinker in Richtung Baden-Baden. Die immer noch aufgewühlte Frau schlug mit der Faust aufs Lenkrad und knurrte sich dabei selbst an:
„Marianne! Du wirst jetzt sofort umkehren und nach Hause fahren!“
Doch wie immer siegte ihre Spielsucht und sie fuhr mit Vollgas weiter. Dabei liefen ihr vor Zorn und Wut über sich selbst die Tränen über die Wangen und hinterließen eine schwarze Spur von Wimperntusche, die sie wie immer dick aufgetragen hatte. Inzwischen wurde es schon wieder hell und mit jedem Kilometer, den sie sich Baden-Baden näherte, wurde sie ruhiger und ihre Selbstverachtung wich einer Vorfreude, die das Adrenalin in ihrem Körper ansteigen ließ. Bevor sie an der letzten Raststätte ausstieg, wischte sie sich hastig übers Gesicht und verließ mit steifen Gliedern den knisternden Wagen. Sie brauchte jetzt einen starken Kaffee, doch davor musste sie sich wieder in die attraktive Frau verwandeln, die souverän auftrat und der man glaubte, dass sie erfolgreich und gut betucht war. So kannte man sie in ihrem Stammcasino und so sollte es auch bleiben. Es musste so bleiben, denn sie musste endlich wieder Glück im Spiel haben, um ihre Schulden abzutragen. Da sie momentan auch kein Glück in der Liebe hatte, musste es doch beim Spiel mal wieder klappen. Marianne fühlte, dass sie heute Erfolg haben würde und frisch gestärkt und gestylt fuhr sie ihrem Glück entgegen, nicht wissend, dass es das letzte Mal sein würde.
Dass ihr Vater nicht mehr lebte, erfuhr Marianne an diesem Tage nicht mehr, denn sie hatte ihr Handy nicht eingeschaltet. Nora hatte es wiederholt versucht und war mit Joska sogar zu ihr nach Hause gefahren, aber dort war sie auch nicht. Nora begann sich ernsthafte Sorgen um ihre Tante zu machen.
„Was denkst du, Joska?“, fragte die besorgte Nichte, während der letzten Kilometer zurück nach Ottenbach. „Ob Marianne doch tiefer in der Sache drinsteckt und irgendwo untergetaucht ist?“
„Keine Ahnung, Nora. Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu warten. Wenn sie in zwei Tagen nicht zurück ist oder sich wenigstens gemeldet hat, werden wir wohl eine Fahndung nach ihr starten müssen. Es tut mir wirklich leid, dass deine bisher so heile Welt so aus den Fugen geraten ist. Vor allem um deinen Opa tut es mir leid – er muss ein ganz toller Mensch gewesen sein. Mir war er von Anfang an sympathisch und ich finde es nicht schlimm, dass er schwul war. Es muss sehr schwer für ihn gewesen sein, seine Neigung so lange zu verstecken und mit deiner Oma sogar eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen. So ein Doppelleben ist sicher sehr aufwühlend und dass er die ganze Familie so lange täuschen konnte, ist schon eine Meisterleistung, findest du nicht?“
„Doch – irgendwie schon. Er war wirklich ein sehr guter Schauspieler, aber dass er seine Kinder und Enkel geliebt hat, war nicht gespielt, da bin ich mir ganz sicher“, bekräftigte Nora mit einem dicken Kloß im Hals. Sie war schon wieder den Tränen nahe und konnte immer noch nicht fassen, dass nun auch ihr Opa nicht mehr da war. Wie würde
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